Simon Beckett: Leichenblässe

(Wtd-Rezensentin Anna Veronica zusammen mit unserem jamaikanischen Zwangspraktikanten Bob in der gemütlichen Leseecke – und beide ebenso ernüchtert wie aufgewühlt? Das kann nur eines bedeuten: Sie haben den neuen Bestseller von Simon „Ich hab immer die coolsten Cover“ Beckett gelesen. So hat sich Bob das Rezensionsgeschäft nicht vorgestellt. Und Anna Veronica auch nicht.)

Affirmation ist vonnöten. Wer hat ihn sich noch nicht zuweilen herbeigesehnt, den Co-Leser, der simultan Seite auf Seite gleichzieht, Kapitelchen um Kapitelchen synchron umblättert, um dann mit ihm – im besten der Fälle – Begeisterung im Duett zu schmettern. Oder eben mit dem partner in crime bedripste Blicke zu wechseln, bis man beherzt die Buchdeckel zuklappt, um gemeinsam ganz andere Schandtaten zu begehen.

Aber klar – zu viel Harmonie ist ein Beziehungskiller. Da könnte ja gemeinsames Schmökern von Leichenblässe, dem kürzlich erschienenen dritten Band um den forensischen Anthropologen Dr. David Hunter, eventuell das Feuer neu entfachen, denn die Lektüre des ‘heimlichen Bestsellers’ (vgl. Die Welt) gibt Rätsel auf. Wer lacht, wenn Dr. Hunter versucht, einen Witz zu machen? Wen ergreift die schiere Panik, wenn Hunter den “unverkennbaren Moschushauch” des Parfums der Frau wahrnimmt, die ihn schon einmal niederstach und ihm vermeintlich immer noch nach dem Leben trachtet? Und wen gruselt’s, wenn altbekannte Weisheiten zum x-ten Male preisgegeben werden? Dass z. B. verwesende Körper nun einmal nicht das Näschen umschmeicheln oder dass Haut sich während des Verwesungsprozesses ablöst. Das sieht man allwöchentlich in einschlägig bekannten Erfolgsserien, oder man hat das schon damals – noch in den Kinderschuhen – bei Patricia Cornwell mit auf den Weg bekommen. Deren Ermittlerin, Kay Scarpetta, suchte bereits 1995 in Das geheime Abc der Toten auf der ‘Body Farm’ kompetente Hilfe.

Auf eben diese ‘Body Farm’, eigentlich Anthropology Research Facility der University of Tennessee, verschlägt es auch Dr. Hunter. Dort will er dem Zersetzungsprozess des menschlichen Körpers nach dem Tod auf die Schliche kommen. Vor allem jedoch sucht Hunter Abstand und Erholung unter Freunden, denn er hat sich noch längst nicht von dem Mordanschlag erholt (vgl. Kalte Asche, 2007), der ihn fast das Leben und irgendwie auch die Beziehung zu seiner Freundin Jenny gekostet hat. Bei all den dramatischen Ereignissen scheint gar das alte Feuer der Leidenschaft für seinen Beruf unter Selbstzweifeln erloschen.

Ob Hunter seiner Profession noch gewachsen ist, kann selbstverständlich bald erprobt werden. Sein einstiger Mentor, Tom Lieberman, bittet ihn bei einem komplizierten Fall um Hilfe. Und da Tom schwer erkrankt ist, übernimmt Hunter einen Großteil der Arbeit, wobei der ungeladene Brite vor allem der örtlichen Polizei ein Dorn im Auge ist. Arbeitet er doch nicht nur unerwünscht, sondern als Ausländer auch völlig unautorisiert an einem brisanten Serienmörder-Fall. Und der könnte, sollte er je vor Gericht kommen, schon wegen eines Verfahrensfehlers, wegen Hunters unerlaubter Mitarbeit am Fall platzen. Das macht zwar Sinn, doch ist so viel Ablehnung für ein angeschlagenes Ego unbekömmlich. Vor allem da langsam der alte Elan in Hunter auflodert: Wie konnten die Leichen in einem so kurzen Zeitraum derart schnell verwesen? Warum haben die Leichen rosarote Zähne? Wer tauscht aus welchem Grund präparierte menschliche Überreste aus? Und welches böse Spielchen hat sich der Täter, der sich den Ermittlern gefährlich nähert, noch ausgedacht?

Man steckt die Nase ins Buch und liest, was physische Zersetzung so mit sich bringt. Erfährt etwas über den feinen Unterschied zwischen fiesem Psychopathen und bösartigem Narziss. Man trifft auf einen selbstverliebten, sich irrenden Profiler und erhält en passant ein paar heiße Modetipps (ein kurzer, raschelnder Rock kann selbst einen schwermütigen Wissenschaftler wachrütteln, wobei sich frau – das ist sexy – am besten noch eine Knarre unters Kostümjäckchen schnallt). Beckett erzählt seine dünn gesäte Story, die zwischen Leichenhalle und Tatorten dahinkreiselt, recht umständlich und gedehnt. Etwas Knoxville/Tennessee, etwas Wald, viel Landschaft, eine Handvoll anormal verwesender Körper, einige nette, gepflegte Menschen und mehrere weniger nette und weniger gepflegte Menschen. Letztere gehören immer zu den Verdächtigen! Enorme Selbstzweifel plagen den Protagonisten und führen zu der Feststellung, dass der Konjunktiv – hätte, wäre, könnte – eine Menge Seiten auch ohne wirklichen Sinn füllt.

Fast ärgerlich stimmt es, wie Dr. Hunter mit Arroganz oder Ignoranz fehlende ärztliche Versorgung an Leichen feststellt, die z. B. Kleinganoven zu Lebzeiten nicht vergönnt ist. Wie marode und bankrott (nicht nur das amerikanische) Gesundheitswesen ist, wäre gewiss eins der spannenden Themen gewesen, die Beckett jedoch nur rammt, um dann lapidar über sie hinwegzuerzählen. Aber warum sich mit der Realität aufhalten, wenn sich bestens daran vorbeischreiben lässt?

Ach ja – am Ende wird alles sehr dramatisch. Und auch der Mörder, der nach altbekanntem Motiv mordet, hat uns in seine (selbstverständlich) unaufgeräumte Welt hineingucken lassen. Hinter all dieser Fadheit möchte man etwas verborgen glauben. Wo ist sie, die hintersinnige Komponente, der tiefere Gedankengang? Oder zumindest die gute Unterhaltung? Ein ratloser Blick auf den Co-Leser könnte hilfreich sein. Hat er’s kapiert? Sich amüsiert? Den Bestseller in Leichenblässe herausgelesen? Doch der sitzt nur duldsam im Fauteuil und blickt knurrig zurück.

Simon Beckett: Leichenblässe 
(Whispers of the Dead, 2009). Roman.
Deutsch von Andree Hesse. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009.
416 Seiten.19,90 €

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