John Harvey: Tiefer Schnitt

Man nehme eine Gruppe Polizisten, gebe ihr ein Verbrechen und lasse sie im Käfig der Bürokratie, der gegenseitigen Animositäten und Intrigen mehr oder weniger planvoll hin und her hasten. Eine/r aus dieser Gruppe hebt sich ein wenig von den anderen ab: der Protagonist, die Protagonistin. Die Vorgesetzten sind zumeist borniert, manche gar heimtückisch, das übrige Personal – das ermittelnde wie das im Laufe der Ermittlungen auftauchende – hat seine psychischen Defekte, die entweder privat oder sozial bedingt sind oder beides. Und schon hat man das Muster, nach dem Krimis beinahe wie am Fließband verfertigt werden, weltweit, am kultiviertesten vielleicht in Großbritannien.

Einer von denen, deren Romane diesen wenigen Vorgaben folgen, ist John Harvey. Inzwischen runde 70, seit langem im Geschäft, bekannt geworden durch seine Reihe um Detective Inspector Charlie Resnick, der auch am Rande der Trilogie um Frank Elder auftaucht. Letztere war es auch, die John Harvey einem breiteren Publikum in Deutschland nahebrachte respektive wieder in Erinnerung rief, nachdem Versuche, die Charlie-Resnick-Romane in den neunziger Jahren erfolgreich zu vermarkten, weitgehend gescheitert waren. Wie überhaupt Harvey bei aller internationalen Wertschätzung kein „Star“ des Gewerbes wurde, sehr wohl aber ein „Author’s Author“, einer also, den die Kollegen gerne lesen (was eher selten vorkommt) und von dem sie sich (was häufiger vorkommt) inspirieren lassen.

Nicht ohne Grund, wie „Tiefer Schnitt“ zeigt, die bei dtv besorgte Neuauflage eines 1991 erschienenen (in Deutschland: 1994 bei Goldmann) Falls für Charlie Resnick. Der sieht sich mit einer Überfallserie im Umfeld eines Krankenhauses konfrontiert, bei der Klinikmitarbeiter von einem Unbekannten angegriffen und schwer verletzt werden. Die Tatwaffe ist ein Messer, die zugefügten Verletzungen derart, dass man dahinter anatomische Kenntnisse vermuten darf.

Ein Verdächtiger findet sich schnell. Ian Carew, Medizinstudent, Tatmotiv: Eifersucht, denn das erste Opfer ist Carews Nachfolger im Bett der aparten Karen. Als Carew Karen vergewaltigt, dafür aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, scheint der Fall klar. Natürlich ist er es nicht.

Und natürlich bringt es nichts, hier eine erweiterte Inhaltsangabe zu präsentieren. Wie Resnick und die Seinen nun ermitteln, das unterscheidet sich kaum von den Arbeiten all der anderen, die das anfangs umrissene Schema zugrundelegen. Auch Resnicks Truppe hat „Probleme“, mit der Ehefrau, dem Polizistsein an sich. Am Ende spitzt sich die Geschichte zu, es wird noch einmal dramatisch, der Täter wird überführt, sein Motiv kommt ans Tageslicht – nein, das unterscheidet Harvey wie gesagt nicht von den anderen, die ihr Ding handwerklich solide, spannend und plausibel über die Bühne bringen.

Aber das: Die Art, wie Harvey sein Personal konturiert, angefangen bei Resnick selbst und bis in die kleinste Nebenfigur konsequent fortgesetzt. Was wissen wir über Resnick? Er hat polnische Wurzeln, liebt Jazz und Katzen, wurde von seiner Frau verlassen, ernährt sich eher unregelmäßig und ungesund, befindet sich in der Polizeihierarchie wie ein Stück Schinken zwischen den Sandwichscheiben eingeklemmt in der Mitte, ihm wird befohlen und er befiehlt selbst. Wir erfahren noch mehr über Resnick, registrieren, wie manche der genannten Eigenschaften in Konflikt miteinander geraten, wie Resnick reagiert. Doch je mehr wir von Resnick erfahren, desto weniger wissen wir von ihm. Die Sache mit Ed Silver zum Beispiel, früher ein berühmter Saxophonist, heute „Penner“ mit psychotischen Anwandlungen. Ihn nimmt Resnick bei sich auf, und wie sie sich da einander reiben, gleichzeitig anziehen und abstoßen, das ist eines der großen kleinen Glanzstücke des Buches. Bar jeder Erklärung, nichts, das irgendwie auf Teufel komm raus küchenpsychologisch sein müsste; hier werden Menschen gezeigt, die Hauptperson und eine Nebenfigur, die plötzlich beides nicht mehr sind, nicht mehr eingebunden in eine starre Erzählökonomie, die von irgend welchen „Genreregeln“ diszipliniert wird (rücke deinen Protagonisten in möglichst grelles Licht und lasse die Komparsen dienstfertig und schnell durchhuschen, von einem Nichts ins nächste).

Das geht einem so mit allen Personen, ob nun für die Handlung wichtig oder nicht. Besonders deutlich wird es in jenen Passagen, die dem Täter selbst gelten. Ohne zuviel zu verraten: Sie führen in die Irre, weil ihre Perspektive irritiert, der Umgang mit „wichtig“ und „unwichtig“. Die Konsequenz: Man liest einen Polizeiroman, dessen Mechanismen man als erfahrener Konsument längst intus hat – und muss irgendwann erkennen, dass man einen Roman über Menschen liest, über Menschen und ihre Merkwürdigkeiten, die zwar durch Verbrechen miteinander schicksalhaft verbunden sind, aber nicht von ihnen dominiert werden. Hier geschieht etwas, das in Krimis nur höchst selten und dann auch nur bei den großen Meistern geschieht. Man befindet sich in einer spannenden Geschichte und zugleich in einer anderen, deren Spannung von besonderer Art ist. Und beide Geschichten greifen ineinander, ohne dass man genau wüsste, an welchen Stellen sie das tun.

Wer John Harvey liest, bekommt etwas geschenkt, das anderswo selbst für viel Geld nicht zu haben ist: eine Ahnung davon, was Kriminalliteratur leisten kann.

John Harvey: Tiefer Schnitt. Dtv 2009 
(Cutting Edge. 1991. Deutsch von Bernhard Schmid). 365 Seiten. 8,95 €

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