Unter dem leicht mit Edgar Wallace kokettierenden Titel „Die toten Augen von Havanna“ hat die Edition Köln zwei Kriminalromane aus Kuba in einem dicken Sonderband zusammengefasst, Justo E. Vascos „Im Visier“ sowie „Die Nachbarin“ von Roberto Estrada Bourgeois. Beschäftigen wir uns heute mit Vasco.
Wollen wir mit etwas Zynismus beginnen? Dem, der besagt, es sei viel leichter, in einem augenscheinlich maroden, bis zum Bankrott ruinierten Land Kriminalromane zu schreiben als inmitten saturierter Routinedemokratie? Und schlussfolgern, nichts stehe der Literatur über das Verbrechen besser zu Gesicht als eben dieses Verbrechen als große, allgegenwärtige gesellschaftliche Klammer? Nein, wollen wir nicht, obwohl es ja zutrifft. Aber das Ganze hat einen gewaltigen Nachteil. Wann immer man einen kubanischen Kriminalroman zu lesen beginnt, springen einem die immergleichen Sujets entgegen: die Korruption der Behörden, der Überwachungs- und Repressionsapparat, die aus der Not geborene Kriminalität, das im Illegalen organisierte Überleben des „kleinen Mannes“, die Flucht übers Meer ins gelobte Gringoland, die Prostitution, die Hitze, die Ausweglosigkeit. Also: Warum überhaupt noch Kubakrimis lesen, wenn wir das alles schon kennen?
Justo E. Vasco präsentiert uns, was soeben aufgezählt wurde. Was soll er auch anderes tun, es ist eben Kuba, über das er schreibt. Ein „Heckenschütze“, der aber mit dem modischen „Sniper“-Klischee nur wenig zu tun hat, erschießt aus dem Fenster seiner Hochhauswohnung heraus wahllos Menschen. Doch wen immer er auch trifft, das Opfer scheint in kriminelle Machenschaften verstrickt. Die Polizei in Gestalt des Mayors Cartaya folgt also zunächst falschen Spuren. Dahinter steckt natürlich ein reichlich böser Humor: Egal, wen du abschnallst, es ist wohl immer ein Verbrecher.
Von Anfang an kennen wir den Schützen, einen alten Mann, dessen Tochter und Bruder sich längst ins Ausland abgesetzt haben. Wir kennen auch den Grund, warum er Menschen erschießt. Er will seinen ersten Mord vertuschen, als Zufallstat erscheinen lassen. Diesem ersten Mord ist ein Transsexueller zum Opfer gefallen, den der Täter mit dem Fernglas in seinen vier Wänden beobachtet hat. Eine Tat aus Ekel vor soviel Unmoral! Da delektiert man sich geifernd an praller Weiblichkeit – und plötzlich zieht sich die Frau aus und ist ein Kerl!
Das erfahren wir aus den Gedanken des Mörders, eines unbegreiflich spießigen Moralisten, eines zum Täter gewordenen Opfers oder eines Täters in der Opferrolle. Und genau hier weist Vascos Buch eben weit über das Übliche kubanischer Kriminalromane hinaus, wird zu einer allgemeinen Studie der über Leichen gehenden Selbstzufriedenheit, der mit Kalkül operierenden Verklemmtheit. Wir einen das Leben kaputtmacht und wird der eine dann das Leben der anderen kaputtmacht. Das Ganze fügt sich organisch in die Handlung, es ist gewissermaßen die Betrachtung en détail dessen, was eine verkorkste Gesellschaft aus Menschen machen kann. Und sie hält keinen Trost bereit. Cartaya, der Zweifler und Einzelgänger, gebeutelt wie jeder Protagonist kubanischer Krimis, kommt dem Täter zwar auf die Schliche, aber mal ehrlich: Können kubanische Krimis mit einem Happyend schließen? Nein, sicher nicht. Auch hier macht uns Vasco nichts vor. Starker Text. – Wir sind gespannt auf den zweiten Krimi des Bandes.
Justo E. Vasco: Im Visier.
In: Justo E. Vasco / Roberto Estrada Bourgeois: Die toten Augen von Havanna.
Zwei Romane. Edition Köln 2009. (Mirando espero, 1999. Deutsch von Klaus E. Lehmann.
Mit einem Vorwort von Amir Valle). 255 Seiten (von insgesamt 459). 13,90 €
(Der Rezensent steht in geschäftlichen Verbindungen mit der Edition Köln)