Einer der Nachteile stolzen Blogbesitzertums ist die Notwendigkeit, sich auf das Tagesgeschäft zu konzentrieren. Spannend, keine Frage; auf der Strecke bleibt aber zuverlässig das Studium der Klassiker, jenes Stündchen am Abend, das uns zu den abgegriffenen Bändchen greifen lässt, in denen die Großen das Genre geprägt haben. Manchmal hilft einem das Schicksal – oder nennen wir es Zufall: ein unverhofft eintrudelndes Päckchen mit vier Simenon-Neuausgaben etwa oder der runde Geburtstag von Mister Ambler. Dann nimmt man sie guten Gewissens wieder zur Hand, die Ehrwürdigen, und liest. Und liest.
Simenon beispielsweise. Mit Anfang 20 die erste Maigret-Lektüre, eine durchaus gemischte Leseerfahrung. Jahre später der nächste Versuch: schon beeindruckender. Natürlich nicht alle 75 Bände, aber zwanzig, dreißig, am Ende vielleicht vierzig, die hat man da schon konsumiert. Und jetzt also noch einmal vier, davon zwei, die man garantiert noch nicht gelesen hat, einen, der irgendwie bekannt vorkommt, der vierte, an den man sich noch gut erinnert. Widmete man sich früher, altersgemäß, dem Spannungsmoment (und wurde bei der Frage des Wer-wars nicht selten enttäuscht) respektive der „gesellschaftlichen Relevanz“ (über die man, ehrlich gesagt, gar nicht so viel wusste), so ist es jetzt die Kunst des Autors selbst, ist es auch die Figur des Maigret, die einen fasziniert.
Wenn Thomas Wörtche seinen großen Simenon-Aufsatz „Das Versagen der Kategorien“ übertitelt, dann meint er damit unter anderem, wie jeder Versuch, sich der Figur Maigret griffig zu bemächtigen, scheitern muss. „Der Figur Maigret fehlen deutlich die Komponenten, die den psychosozialen Haushalt des gemeinten ‚Kleinbürgers‘ ausmachen“. Dass man, fahndet man nur genug nach ihnen, sie im Werk dennoch entdeckt, spricht erstaunlicherweise nicht für, sondern gegen Kleinbürgerlichkeit. Maigret ist bürgerlich, keine Frage. In „Maigret und der faule Dieb“ ächzt er unter der zunehmenden Bürokratisierung, der Degradierung des Polizisten zum Helfershelfer einer elitären, an den Menschen desinteressierten Justiz. Privatim klagt er seinem Freund, dem Arzt Pardon: „Die Leute meinen, Pardon, dass wir dazu da sind, Straftäter ausfindig zu machen und Geständnisse aus ihnen herauszuholen. (…) In Wirklichkeit besteht aber unsere Hauptaufgabe darin, zuerst einmal den Staat und die amtierende Regierung sowie die Institutionen zu schützen, außerdem das Kapital, das öffentliche und das Privateigentum, und dann zum Schluss erst das Leben jedes einzelnen Bürgers.“
Die Erkenntnis, gewissermaßen staatserhaltend tätig zu sein, führt nicht zur Empörung, wie sie durchaus kennzeichnend für das Bürgertum ist (und von Stammtischgegröle über „Protestwählen“ bis zum Ruf nach dem Aufknüpfen von denen „da oben“ reichen kann). Aber Maigret opponiert auf seine Art, indem er seine Rolle aus Polizeibeamter und Wahrer des Rechts gegen alle Regeln auslegt. Hier trifft sich die Figur mit ihrem Schöpfer, denn dieses „gegen alle Regeln“ wird zum konstituierenden Element der Kriminalliteratur Simenons, ohne dass es eine ästhetische Attitüde, ein gesuchtes, auf Kalkül basierendes Alleinstellungsmerkmal wäre. Schon in →„Maigret und die braven Leute“ düpiert er den gemeinen Genreleser, in „Maigret und der Clochard“ ebenfalls, indem er seinen Kommissar sowohl im Sinne der Professionalität als auch der literarischen Umsetzung dieser Professionalität subversiv handeln lässt.
Dem zugrunde liegt eine beinahe anarchistische Wesensart Maigrets.
„Wie denken Sie über den Fall, Maigret?“, hatte ihn oft ein Untersuchungsrichter gefragt, wenn er bei einem Lokaltermin oder einer Rekonstruktion des Tathergangs dabei war.
„Im Gerichtsgebäude wurde seine stets gleichlautende Antwort kolportiert:
„Ich denke nie, Herr Richter.“
Und irgend jemand hatte eines Tages kommentiert:
„Er saugt sich voll…“
In gewisser Weise stimmte das. Die Wörter waren ihm zu eindeutig, deshalb schwieg er lieber.
(„Maigret und der Clochard“)
Das ist nicht nur ein bezeichnender Charakterzug Maigrets, der ihn vollends aus dem Bürgerlichen werfen könnte, steckte er nicht wie die meisten anderen rettungslos in ihr fest, es ist auch eine Beschreibung des Unterschieds zwischen regelkonformer, d.h. den Mustern verpflichteter und von den Regeln abweichender Kriminalliteratur. Er saugt sich voll… und drückt sich dann selbst wie ein Schwamm aus. Wenngleich die Behauptung, Maigret denke nicht, in die Irre führt. Maigret denkt durchaus. Aber anders, später, wenn ihm das Unglaubliche der Geschichte bewusst geworden ist, nicht vorher, denn das würde dieses Unglaubliche sofort zerstören, in die Schemata des Bekannten pressen.
So ist auch Simenon ein Autor, der sich zuerst vollsaugt, künstlerisch ausquetscht und erst dann denkt. Die Regeln folgen dem Inhalt, und manchmal sind es die alten Regeln und manchmal sind es neue und manchmal ist alles regellos. Gut; das müsste man jetzt genauer untersuchen, vielleicht stimmt es nämlich gar nicht. Man bräuchte mehr Zeit für die Klassiker. Das nächste Mal.
dpr