Ein Buch, dem man nach der Lektüre noch eine Weile hinterher denkt, ein Krimi zumal, der mit seinem Ende noch nicht abgeschlossen ist – das muss ein starker Text sein. „Ein Morgen wie jeder andere“ des Franzosen Christian Pernath gehört unbedingt in diese nicht gerade dichtbevölkerte Kategorie.
Dabei scheint die Geschichte selbst wie dazu gemacht, in einem Bottich kitschiger Gemeinplätze ersäuft zu werden. Bélouard, Tierarzt, lebt als Außenseiter in einem bretonischen Dorf. Alleinstehend, trockener Alkoholiker, melancholisch. Seine Kundschaft ist überschaubar, sein Leben desgleichen. Dann wird auf einem Bauernhof eine Familie ausgelöscht, mit der ländlichen Ruhe ist es abrupt vorbei, und auch Bélouard, eigentlich wenig interessierter Zuschauer, gerät in den Strudel des Verbrechens. An der Straße findet er Claire, eine von ihrem Mann schwer verprügelte Frau, und nimmt sie mit sich nach Hause. Claire erholt sich, der Tierarzt mimt den Parlamentär, der zwischen ihr und ihrem Mann vermittelt, man kommt sich näher, ohne sich wirklich nahe zu kommen – und dann geschieht, was geschehen muss: Ein Verdächtiger wird verhaftet, doch zugleich mehren sich bei Bélouard die Anzeichen, dass Claire mit dem Mehrfachmord etwas zu tun haben könnte.
Das alles gehört seit vielen Jahren zum Strickmuster von Kriminalromanen. Ein Außenseiter, der sich in eine Frau verliebt, die vielleicht eine Mörderin ist, ein schreckliches Verbrechen aus Leidenschaft, ein unschuldig Inhaftierter, ein bedrohlich anwachsender Verdacht. Außergewöhnlich jedoch, was Pernath aus dieser Geschichte macht. Es beginnt beim Protagonisten selbst, einer ebenso stimmigen wie verwirrenden Figur, die gerne in ungewöhnlichen Bildern und Metaphern erzählt, nicht vor Selbstmitleid zerfließt, sich kontrolliert und doch immer wieder die Kontrolle über sich zu verlieren droht. Sein Verhältnis zu Claire bleibt distanziert, sehr zerbrechlich, auf Andeutungen und gedankliche Umwege reduziert. Claire wiederum ist ein Rätsel, weder ins Opfer- noch ins Täterschema einzuordnen, anziehend und abweisend.
Das sind keine im allgemeinen Sinn „sympathischen Figuren“. Ganz normal zerbrochen sind sie und dem Leser eben daher so nahe, dass man mit ihnen doch sympathisiert. Wer die höchst vertrackten und doch so alltäglichen Welten von Bélouard, Claire und dem übrigen Personal betreten hat (ja, auch die Nebenfiguren sind alles andere als statisch), der ist spätestens jetzt immun gegen das allfällige und seitenschindende Krimiromangeschwätz, die uninspirierten Plaudereien, das holprige Beschwören von Sinnhaftigkeit und anderer Katastrophen.
Und das Ende ist beinahe zum Heulen schön und traurig. Wir verlassen Bélouard höchst ungern, aber mit der gebührenden Diskretion. Nein, bitte keine „Serie“ daraus basteln. Die Geschichte wird uns auch so noch einige Zeit beschäftigen, ein Musterbeispiel für ebenso spannende wie anrührende, phantasievoll umgesetzte und aus dem Alltäglichen geschöpfte Kriminalliteratur, erzählt mit einem Witz, dem man die Traurigkeit, die ihn hervorbringt, nicht austreiben kann. Oder mit anderen Worten: So ziemlich das Beste, was ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.
Christian Pernath: Ein Morgen wie jeder andere. Dtv 2009
(Un matin de Juin commes les autres. 2006. Deutsch von Nathalie Mälzer-Semlinger).
217 Seiten. 14,90 €