Ist der Krimi „die ideale Form des Gesellschaftsromans“, wie es Anne Chaplet glaubt, →Herr Linder aber wohl eher nicht? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ auch dort Gesellschaftsroman ist, wo der Held allein auf seiner einsamen Insel fuhrwerkt. Man muss schon lange suchen – wahrscheinlich vergebens -, um einen Roman zu finden, der nichts über die Gesellschaft erzählt, und fände man ihn, würde er, gerade weil er nichts erzählt, sehr viel darüber erzählen.
Nun bin ich wissenschaftlich mit der Rezeptionsforschung großgeworden. Die untersucht – verkürzt gesagt – die Wirkung von Literatur auf ihre Leser, mithin also auch auf die Gesellschaft. Die Rezeption von „Krimi“ im Deutschland des beginnenden 21. Jahrhunderts vermag also, diesen Ansatz zugrundelegend, über die Gesellschaft einiges zu berichten, ohne auf Themen und Inhalte im Speziellen zurückzugreifen. Schauen wir uns nur an, wie es den beiden Verfilmungen der Tabor-Süden-Romane von Friedrich Ani ergangen ist. Sie sollten eine Reihe einläuten, kamen jedoch über den Status von Pilotsendungen nicht hinaus. Die Einschaltquote solala, die Abschaltquote ein Graus. Einzige Medienkonsequenz: abgesetzt. Darauf hätte man beinahe Wetten abschließen können. Was sich nicht ins Schema fügt, wird gnadenlos verworfen, das will keiner sehen, und wer es sehen will, der rechnet schon gar nicht mehr damit, vor 23.30 Uhr auf halbwegs verwertbares Fernsehgut zu stoßen. Fast möchte man von Parallelgesellschaften reden, einer übergroßen der Primetime-Unterhaltung und einer eher überschaubaren des Spätestprogramms.
So sieht es ja auch in der Kriminalliteratur aus. Man liest die geschickten dramaturgischen Automatismen eines Sebastian Fitzek, begeistert sich an der maßlosen Formlosigkeit der Klischees in den Romanen eines Stieg Larsson, greift zu den Schmökern einer Charlotte Link. Was sagt das über den Zustand unserer Gesellschaft aus? Vielleicht, dass sie selbst das Abgründige nur im Rahmen strikter Regelhaftigkeit goutiert, die Gesetze des Genres als Werkzeug einer inneren Ordnungsmacht braucht, die aus dem eigentlich Irritierenden das zur Unterhaltung Gebändigte macht. Der Anarchist, der nur bei Grün über die Straße geht, der Revolutionär, wie er vorschriftsmäßig eine Bahnsteigkarte löst.
Bye-bye, Tabor-Süden-mäßiges Leben, willkommen Edgar-Wallace-Schmarren, bei denen man schon in den Sechzigern am liebsten in die Kinoleinwand gebissen hätte. Nun sagt dieses Krimileseverhalten aber wenig über den Zustand der Gesellschaft aus; vielmehr spiegelt es die Vision, wie eine ideale Gesellschaft auszusehen habe. Alles unter Kontrolle, alles im Zaum der Staatsgewalt, das Abnorme eingekäfigt im soziozoologischen Garten, von kräftigen und behenden Wärtern jederzeit wieder einzufangen, sollte doch einmal der Ausbruch gelingen. Logik? Ja. Aber bittschön: Binnenlogik. Der Plot darf ruhig hanebüchen sein, muss aber zu Ende gedacht werden wie eine Mathematikaufgabe.
Was interessieren dabei noch Inhalte? Die Behauptung, Kriminalliteratur beschreibe, analysiere gar gesellschaftliche Verhältnisse, ist so zutreffend wie sie unzutreffend ist. Solange sie sich nicht an die Strukturen von Gesellschaft wagt, liefert sie Ausrisse von Gesellschaft, die, da in Qualität und Quantität beliebig, allenfalls Anekdoten zu erzählen haben. Da ist der „Robinson Crusoe“ auch für uns Heutige noch aussagefähiger als der nächste in die Genrebackform geknetete Sozialschmarren, die dramatisierte Kapitalismuskritik oder ein hochgetrillerter Terrorismusfetzen.
So erzählt der Zustand unserer „Krimikultur“ eigentlich die spannenderen Geschichten über uns. Es sind keine tröstlichen Geschichten.
du hast dir edgar wallace im kino angeguckt?
*kringelt sich
die edgar-wallace-filme waren dann wohl die „blaupause“ für alle diese unseligen deutschen krimiadaptionen aus dem ausland, england, italien, schweden. also, wer war der HUND … die englischen agatha-christie-verfilmungen sind reizend, lustig, close to „dinner for one“.
Ey, Baby, ich komm vom Land! Da liefen die Filme aus den 60ern erst in den 70ern. Und mein Cousin hat am Eingang die Karten abgerissen, ich bin also immer umsonst reingekommen! Nur nicht bei den Karl-May-Verfilmungen.
bye
dpr
x mal lieber Edgar Wallace als : „Ich benutze Krimi nur (leider bin ich darauf angewiesen), um mein gesellschaftliches Anliegen unter die Leute zu bringen.“ Von den Leuten gespürtes Anliegen, ist aber oft auch abgeschaltetes Anliegen.
Die Karl-May-Verfilmungen waren ja GOLD wert gegen die Edgar-Wallace-Filme. Die sind wirklich nicht ironiefähig… Ich habe mir den „Großen Blonden mit dem schwarzen Schuh angeschaut. Pierre Richard vs. Gerard Depardieu. Su-per.
schönen Dank für den Link! Auf seine Alleinstellungsmerkmale sollte der Kriminalroman bestehen. Im übrigen sehe ich eher die Ideologiekritik am Werk, die von der falschen Literatur auf die falsche Gesellschaft schließt. Schon recht. Aber kann eine falsche Gesellschaft etwas anderes hervorbringen als falsche Literatur?
Beste Grüße!
Aber das Alleinstellungsmerkmal eines Krimis ist doch immer noch der Kriminalfall. Und meistens (nicht immer) die Aufklärung. Ansonsten beschreibt er die Gesellschaft wohl so häufig wie es Nurromane auch machen.
so seh‘ ich das auch, lieber Georg!
Yep, lieber Georg.
Die Gesellschaft über ihre Krimilektüre zu verstehen, funktioniert ja nur dann, wenn die Gesellschaft Krimi auch als „ideale Form des Gesellschaftsromans“ begriffe.
Das begreife ich jetzt nicht, lieber Bernd. Das Untersuchen von Leseverhalten kann Auskünfte über die lesende Gesellschaft geben. Vielleicht käme man zu dem Ergebnis, dass das Lesen von Krimis einfach nur Zeitvertreib ist, ein bisschen eskapistisch, ein wenig nervenkitzelnd. Den Begriff des „Gesellschaftsromans“ tangiert das überhaupt nicht, der befindet sich, so oder so, auf einer anderen Ebene, die zunächst nichts mit der Rezeption von KL zu tun hat. Ich könnte in einem nächsten Schritt untersuchen, warum bestimmte Menschen Kriminalromane lesen, von denen sie annehmen, sie würden ihnen ein Bild der Gesellschaft oder einer Analyse derselben präsentieren.
bye
dpr
Mach das doch mal, das hört sich interessant an. Für mich ist das Lesen ja immer zweischneidig. Einerseits Ausstieg aus der bösen Realität (das ist einfach), andererseits Anlass zur Selbstreflexion (das ist schon schwieriger). Und: Erkenntnis über die Welt, auch sehr schwierig.
Manchmal blitzt etwas auf, dann sind es kleine Epiphanien. Die sind bei mir sprachlich vermittelt, aus der Sprache eines Romans, nicht über Fakten über die Gesellschaft. Die lese ich besser in jedem „Spiegel“. Aber sie machen trotzdem die faktische Gesellschaft und die menschlichen Beziehungen klarer.
Zweischneidig ist Literatur in diesem Sinne ja immer. Natürlich begebe ich mich beim Lesen in eine andere Welt, die des Autors nämlich. Das kann Spaß bereiten und mich meine Welt vergessen machen. Aber entscheidend ist doch, wie und womit ich in meine Welt zurückkomme. Das kann etwas mit Inhalten zu tun haben, ist aber, was gerade bei Krimis leider unterschätzt wird, häufig auch eine Frage der Form, der Sprache, die mir in einem Buch begegnet. Dass Krimis „Gesellschaftsromane“ seien, vermittelt sich für mich deshalb auch weniger über die Inhalte, sondern mehr über die Art und Weise, wie diese Gesellschaft im Buch formal dargestellt wird (das „sprachlich“ denken wir immer mit). Ich möchte nicht affirmativ lesen, ich möchte gerne Welt-Sichten kennenlernen, die mir fremd / fern sind. So wird das Eskapistische zu etwas, das mich sofort tangiert.
bye
dpr
ihr werdet schon wieder redundant …
*mahnt
„Manchmal blitzt etwas auf“
In my honest opinion ist das die Definition von Literatur und beste Antwort auf die Frage: „Warum soll ich das lesen?“
wenn ich mich in die „Welt des Autors“ begeben müßte, würde ich das Lesen heut‘ noch einstellen (und die Blitz-Metapher bleibt für Unterröcke reserviert: da muß man freilich schon etwas älter sein).
Beste Grüße!
Ich schulde Dir noch eine Antwort, lieber dpr.
Mir scheint, Du hast Deine Position im Verlauf der Diskussion etwas verändert (?)
Natürlich spiegelt sich die Gesellschaft im Krimi (wenn auch vielleicht in einer sehr verzehrten Art und Weise). Möglicherweise ist es spannender den gesamten Korpus an Krimis einer Gesellschaft zu analysieren und weniger das einzelne Werk.
Anfänglich schien es mir aber so, als wolltest Du von der Lektüre auf die Leser schließen, das geht natürlich gar nicht.
Beste Grüße
bernd
@JL: Also für mich ist ein Text immer ein Ausschnitt aus der „Welt des Autors“. Aus wessen Welt sonst? Aus keiner? Ja, ich will durchaus wissen, was sich „der Autor dabei gedacht hat“, nicht aus Gründen eher ins Private zielender Neugierde, sondern um den Text analysieren zu können. Vielleicht bin ich hier zu sehr auf das Technische der Textgenese fixiert; verzeihen Sie einem Mann, in dessen Kopf sich Textkonstruktionen partout zu technischen Zeichnungen zusammensetzen.
@Bernd: Wir reden aneinander vorbei. Natürlich kann man nicht von der bloßen Lektüre auf die Leser schließen. Aber in dem imaginären Szenario ging es darum, im Zuge einer rezeptionstheoretischen Untersuchung herauszufinden, WARUM ein Leser z.B. „eskapistisch“ liest und welche Angebote ihm bestimmte Texte dazu machen. — Aus Zeitgründen nur noch die Erwähnung, dass man dazu eine ziemlich komplexe Versuchsanordnung schaffen müsste, die auch hermeneutische Elemente enthalten musste… Ich breite das Thema bei Interesse gerne irgendwann noch einmal ausführlicher aus…
bye
dpr
ich (bei Ihnen ist das vielleicht anders) kann schlechterdings nicht wissen (wollen), was sich ein Autor gedacht hat (haben mag). Was hat sich, beispielsweise, Rudolph gedacht, als er einen Ermittler präsentierte, der seine Bücher zählt und die Zahl auch noch mitteilt. Für mich entsteht so ein präpotentes Rindvieh, das ich nie und nimmer mit der ‚Welt des Autors‘ identifizieren möchte. Ich hab‘ halt nur den Text und meine Welt (in der ich mich dann amüsieren darf, wenn einer wie Robotham ein paar Freud-Sätze zu Riesenschinken aufbläst).
Aber da kommen wir wahrscheinlich nie zusammen.
Beste Grüße!
PS: was Rezeption angeht, gibt’s einige gute Ideen (und den strengen Ruf nach Empirie) bei Franco Moretti.
Doch, da kommen wir zusammen! Mein Interesse liegt weniger auf der inhaltlichen Ebene als viel mehr auf der „technischen“. Warum präsentiert uns ein Autor seinen Text in dieser Form und keiner anderen? Das, die Arbeitsweise, ist für mich „die Welt des Autors“. Ihrem Beispiel stimme ich ja völlig zu. Den Protagonisten als Bücherzähler hinzustellen, hatte seinen guten Grund, aber nichts mit „der Welt des Autors“ zu tun. Ich hab als Jugendlicher stolz meine Bücher gezählt, aber irgendwann damit aufgehört.
Moretti kenne ich und den strengen Ruf nach Empirie unterstütze ich – in Maßen. Irgendwann kommt man mit Empirie aber nicht mehr weiter oder verkauft etwas als empirisch, was nicht empirisch sein kann.
bye
dpr
Unterröcke? Wenn´s blitzt ist immer Zeus im Spiel (und manchmal Athene mit den strahlenden Augen)
Ohne Empirie kannst Du die Frage des Warums nicht ansatzweise beantworten. Es fängt an mit der Frage ob Leser Stieg Larsson überhaupt eskapistisch wahrnehmen, und geht weiter zur Frage, ob Leser (oder Subgruppen derer) differnzieren, also Realität in der FAZ, Unterhaltung im Krimi.
Beste Grüße
bernd
Natürlich nicht ohne Empirie, Bernd. Aber keine Empirie der Welt teilt dir mit, dass Stieg Larsson-Lektüre eskapistisch ist. Das erzählt dir allein die DEUTUNG, wenngleich in inniger Umarmung mit dem Empirischen.
bye
dpr
die Deutung des Textes von Larsson? Jeder, meinetwegen fast jeder, Text kann eskapistisch gelesen werden. Und bei entsprechenden Bedürfnissen (Sie, lieber dpr, beschreiben die Ihrigen so) ist eine nicht-eskapistische Lektüre eskapistischer Texte vorstellbar. Das kriegen Sie nur raus, indem Sie die Bedürfnisse der Leser empirisch untersuchen. Die sind nämlich auch keine einfachen ‚Reaktionsdeppen‘, die man mit ‚eskapistischer Text = eskapistische Lektüre‘ einfangen kann (wobei ohnehin jeder Leser auch eskapistisch liest).
Beste Grüße!