Was kann man von einem System, das Recht sprechen soll, erwarten, wenn es sich als durch und durch korrupt erweist? Geld regiert das business um Gerechtigkeit, macht gefügig und folgt seinen ganz eigenen Gesetzen. John Grisham gewährt in Der Anwalt spannende Einblicke hinter die Fassaden der Haifisch-Wall-Street-Kanzleien, steuert wie gewohnt tief durch Klischees, wandelt teilweise auf dünner Logik und erzählt – so könnte man fast den Eindruck gewinnen – eine leider flach ausgefallene, aber böse Variante seines eigenen Romans Die Firma (1990).
Waren die Schurken in Die Firma noch ‘richtige’ Kriminelle (Mafia), scheint sich nun – knapp 20 Jahre später – das Böse längst in den ersten offiziellen Reihen von Recht und Ordnung wie legal zu tummeln, die Kontrollfunktionen selbst nur daran interessiert, beim gegenseitigen Aushebeln möglichst clever abzukassieren. In diesen Sündenpfuhl schleust Grisham seinen Protagonisten Kyle McAvoy. Der brillante Jurastudent Kyle muss nur noch ein Examen ablegen, dann stehen ihm alle Türen offen, um in der ersten Liga der Juristerei mitzuspielen. Bislang hat er die Angebote der renommiertesten Kanzleien des Landes ausgeschlagen, will sich doch der sozial engagierte Chefredakteur des Yale Law Journals in den nächsten Jahren als Rechtshilfeberater der Mittellosen betätigen.
Doch dann tauchen finstere Typen auf, die alles über Kyle und seine Vergangenheit wissen. Mehr sogar als er selbst, haben sie doch ein Video aufgetrieben, das Kyle und seine College-Kumpel im Alkohol-Delirium zeigt und sie mehr als kompromittiert. Wurde Kyle vor Jahren Zeuge einer Vergewaltigung? Ist er eventuell selbst ein Vergewaltiger? Oder war er sturzbetrunken bei einer ungeklärten Straftat anwesend? Egal. Kyle fühlt sich unschuldig, doch wenn das Video in falsche Hände gerät, könnte seine zwar noch nicht begonnene, aber überaus viel versprechende Karriere jäh beendet sein. Und so lässt er sich auf einen gefährlichen Deal ein, der ihn letztlich in weitaus größere Schwierigkeiten bringen könnte als die unheilvolle Vergangenheit.
Von nun an wird Kyle Tag und Nacht überwacht und mithilfe seiner glänzenden Referenzen sowie seiner allmächtigen Erpresser bei der einflussreichen Kanzlei Scully & Pershin exakt an der gewünschten Stelle positioniert. Die Kanzlei rüstet gerade für einen Milliarden-Dollar-Prozess auf, der wirtschaftlich mindestens so relevant ist wie politisch. Und Kyle, der absolute Anfänger, soll – das ist mehr als riskant – seinen Hintermännern geheimste Informationen zuspielen! Doch wer ist der Auftraggeber seiner Erpresser? Ist Kyle wirklich der naive Spielball zweier selbstgerechter, nur ihren eigenen Interessen verpflichteter Chefs? Und welche Optionen bleiben dem leidenschaftlichen Leser von Spionageromanen, um seine top ausgebildeten Gegner auszutricksen? Aber gut, damit die Story funktioniert, stellt sich zumindest das Fußvolk der Profi-Spionage-Crew äußerst tölpelhaft an.
Interessant wird Der Anwalt, wenn Grisham das Porträt großer Kanzleien zeichnet. Wenn er schildert, wie die nachfolgende Anwalt-Elite-Riege von ihren Vorgesetzten getriezt wird, und mit welchen Methoden man ermittelt, wer sich von den Neulingen als ausreichend ruchlos und belastbar erweist. Diesem Szenario stellt Grisham das Bild der Provinz gegenüber. Kyles Vater, ebenfalls Anwalt, sorgt sich noch um das Recht, kümmert sich um seine Mandaten und es schert ihn wenig, ob diese sich seine juristischen Dienstleistungen überhaupt leisten können.
Die Story indes kommt nie richtig in die Gänge, ist überaus umständlich, dabei zugleich simpel und redundant erzählt. Grisham skizziert zwei Entwürfe des einen Rechtssystems, wobei der eine abgrundtief korrupt ist, während der andere dem Leben fast entrückt scheint. Damit derlei Betrachtungen nicht zu spröde werden, injiziert Grisham der Story lieber noch einen Mord, denn der Leser muss begreifen, wie skrupellos die Skrupellosen tatsächlich sind. Die Episode um den Läuterungsprozess eines Ex-Alkoholikers soll übrigens von einem wahren Fall inspiriert sein, ist auch für sich betrachtet durchaus spannend, doch tüftelt Grisham den Handlungsstrang völlig ohne Finesse und ohne ernsten Hintersinn als Stolperstein für Tempo und Spannung in die eigentliche Story.
Was am Ende bleibt, ist ein mehr oder weniger unterhaltsamer Roman, der sich im Juristen-Spionage-Milieu vornehmlich dem einen Thema widmet: Welche irrwitzigen Auswüchse der Kapitalismus angenommen hat und wie man seinen Versuchungen widerstehen kann! Kyle lernt das auf die harte Tour. Der wenig mitgerissene, und doch nicht abgeneigte Leser von Der Anwalt blickt mit dem Autor in eine finstere Gegenwart: Augenscheinlich sind die Bösen längst unidentifizierbar zwischen den Erfolg- und Einflussreichen bestens platziert. Was natürlich nicht bedeutet, dass sich die Eliten zwangsläufig aus den Guten rekrutieren. Die Anständigen aber finden sich – laut Autor – fast ausschließlich in der Provinz auf Hirschjagd. Und dann sieht’s wirklich düster aus.
Anna Veronica Wutschel
John Grisham: Der Anwalt.
Heyne 2009. 448 Seiten. 21,95 Euro.
(The Associate, 2009. Deutsch von Dr. Bernhard Liesen, Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter, Imke Walsh-Araya)
VIER ÜbersetzerInnen? Was ist denn da passiert – bzw: wie ist denn die Übersetzung (geworden)?
Fragt besorgt – P.
Vielleicht wird Übersetzen jetzt arbeitgeberfreundlich auf 400-Euro-Minijobs verteilt…
bye
dpr
*weiß, wie man Profit maximiert