Lisa Nerz, das ist schon eine. Gelegenheitsjournalistin (nach einer Erbschaft kommt sie auch ohne regelmäßige Arbeit über die Runden), Detektivin aus Überzeugung, Trägerin von Männerklamotten, ein bisschen bi, momentan mit einem Oberstaatsanwalt namens Richard Weber verbandelt („Lebensabschnittsirrtum“). Für den diplomatischen Dienst absolut nicht zu gebrauchen. War schon mal auf dem Mond und mischt sich bevorzugt in Dinge ein, die sie nichts angehen oder nichts angehen sollen. Zum Beispiel eines frühen Morgens, als es in der Wohnung über der ihren rumort und schreit. Einige Damen vom Jugendamt wollen den kleinen Tobias Habergeis abholen und in ihre „Obhut“ nehmen. Gestapomethoden sind das, befindet Lisa Nerz und geht dazwischen. Prompt steckt sie in ihrem nächsten Kriminalfall, einem besonders heiklen.
Denn bald darauf stirbt die Richterin, auf deren Anweisung das Kind seiner Mutter entrissen werden sollte, unter mysteriösen Umständen im Wald. Unter der Leiche finden Lisa und ihr Oberstaatsanwalt einen Säugling, ein Mädchen. Weber verwandelt sich auf der Stelle in eine Mutterglucke, sehr zum Missfallen Lisas. Fortan sehen wir das unvermutete Vaterglück und sein schreiendes, windelfüllendes Objekt nicht mehr getrennt. Irgendwie idyllisch.
Aber nein: Idyllisch ist das Ganze nun gar nicht. Was uns Christine Lehmann über die Praktiken von Jugendämtern und Pflegeheimen zu erzählen hat, wie sie munter an aller Rechtsstaatlichkeit vorbei zu operieren scheinen, selbstherrlich und ohne wirkliche Kontrollinstanz, das ist schon, salopp gesagt, ein Ding. Und doch auch wiederum so simpel nicht. Mischen sich Jugendämter nämlich NICHT ein, empört sich die Republik. Wir alle kennen die einschlägigen Nachrichten von gequälten, verhungerten, totgeschlagenen Kindern.
Dieses Dilemma spart Lehmann keineswegs aus, ohne uns indes zu suggerieren, sie habe eine Lösung gefunden. Denn auch „die andere Seite“ passt nicht so recht in eine Schablone, die Seite der Eltern. Und hier wird’s pricklig, greift doch Lehmann hinein ins volle aktuelle Menschenleben, in die unselige „Unterschicht“-Diskussion, die Diskriminierung von Hartz-IV-Empfängern, Andersgläubigen oder überhaupt Andersartigen, denen man per se „Asozialität“ und Schlimmeres unterschiebt. Die Mutter des kleinen Tobias etwa ist eine überforderte Frau, von abgängigen Ehemännern und Liebhabern seelisch ruiniert, von dem ganzen Jugendamts-Hickhack in die rosarot-bedrohliche Welt der Psychopharmaka getrieben. Ihre 13jährige Tochter kann da nur hilflos zuschauen…
Nicht immer ist das, was Lisa Nerz an Kommentaren ablässt, wirklich durchdacht, Gott sei Dank, möchte man sagen. Aber wie Christine Lehmann hier ein Stück verkorkste Gesellschaft darstellt – verkorkst auf BEIDEN Seiten, wohlgemerkt -, das hat so gar nichts von der oberflächlichen Analytik mancher Politiker, die sich in Talkshowsesseln fläzen und ihr populistisches Nullachtfünfzehn auspacken. Und die eigentliche Kriminalgeschichte? Wie von Christine Lehmann nicht anders erwartet, vorzüglich und souverän erzählt. Mit Wortwitz, detailgenau, ohne die Handlungsökonomie aus dem Auge zu verlieren. Ein wenig Unlogik inklusive: Selbst ein Oberstaatsanwalt dürfte sich nicht so mir nichts dir nichts ein Findelkind aneignen können.
Am Ende ist wirklich so ziemlich jede Fassade am Bröckeln, die Auflösung ist nicht nur überraschend, sie ist auch verblüffend und bedrohlich, fast ein Blick in eine düstere Zukunft. Fazit: Ein ebenso komplexes wie kontroverses Thema glaubhaft ausgebreitet und spannend erzählt.
Christine Lehmann: Mit Teufelsg'walt.
Argument / Ariadne 2009.
285 Seiten. 11 €