Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive (Schluss und darüber hinaus)

Noch immer streite ich mit Jochen Schmidts „Gangster, Opfer, Detektive“, und inzwischen hängt der Haussegen beträchtlich schief, der Gang zum Scheidungsanwalt scheint unvermeidlich. Dass dieses Werk solche Emotionen auszulösen vermag, ist seine große Stärke, die aber vor allem aus seinen großen Schwächen resultiert. Auch als reine Informationsquelle wird das Buch mehr und mehr verzichtbar. Fazit: ziemliche Ernüchterung…

Beginnen wir bei der Kritik mit dem Offensichtlichsten. Schmidts Werk, ein Koloss von über 1100 Seiten, hätte leicht auf höchstens die Hälfte eingedampft werden können, wäre irgend jemand in der Lage gewesen, den Autor von seiner fatalen Neigung zur Nacherzählung abzubringen. Komplette OEuvres werden hier inhaltlich wiedergekäut, oft auch mit nonchalantem Spoilern, das Ganze dann mit einer „Meinung“ abgerundet, doch für wirkliche Argumentation und Analyse reicht dann der Platz leider nicht mehr. Ein Beispiel.

Man mag Jochen Schmidts harschem Urteil über den „Soziokrimi“ (flach, langweilig, politisch einäugig) ja aus vollem Herzen zustimmen und es auch hinnehmen, dass er sich fast ausschließlich auf Horst Bosetz(-ky) kapriziert und meinetwegen die doch interessantere Helga Riedel außen vor lässt. Die wichtigsten Fragen indes bleiben unbeantwortet. Schließlich ist der Soziokrimi weder vom Himmel gefallen noch irgendwann in den Achtzigern per Dekret einfach so beendet worden. Für sein Entstehen gibt es sehr wohl inner- als auch außerliterarische Gründe, der Soziokrimi passte ebenso in die literarisch-intellektuelle Landschaft wie auch in die historische Zeit mit ihren sozialen und ideologischen Parametern. Auch kommt ihm das „Verdienst“ zu, zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Krimis diesen wenigstens als Thema diskursfähig gemacht zu haben (wenn ich mich nicht arg täusche, kam „Krimi“ in den Feuilletons erstmals in Verbindung mit diesem Soziokrimi vor). Dies zu beleuchten, also die BEDINGUNGEN für die Entstehung eines besonderen „Typus“ von Kriminalliteratur nachzuverfolgen, erwartet man schon von einem Buch, das im Untertitel „eine Typengeschichte des Kriminalromans“ verspricht.

Und hat sich diese innige Verschwisterung von literarischen und im weitesten Sinne soziologischen Einflüssen nicht kontinuierlich fortgesetzt? Auch Biermann, Göhre oder Ani sind „irgendwie soziologisch“, aber eben ganz anders, und selbst der hinterletzte Regionalkrimi protzt inzwischen mit seiner „Gesellschaftrelevanz“. Und was sagt die Rezeption von Krimis zu Zeiten ihrer soziologischen Fixierung über die Leser aus? Denn erfolgreich waren –ky und die Seinen ja sehr wohl. Schweigen wir ganz von den internationalen Einflussgrößen auf die nationale Krimiproduktion…

Man könnte bis in alle Ewigkeit so weitermachen. Schmidt tut es nicht einmal im Ansatz. Er ist, was man anhand vieler Beispiele belegen könnte, auf eine seltsame Art ahistorisch, seltsam deshalb, weil allein das Versprechen einer TypenGESCHICHTE den Blick auf die Entwicklung und Verästelung des Genres notwendig gemacht hätte. Greifen wir, pars pro toto, Fred Vargas, wie Jochen Schmidt sie sieht, aus dem großen Ganzen:

Wohl ringt Schmidt den Büchern der Französin durchaus Gutes ab: „…fraglos spannend, phantasievoll und vergleichsweise (sic! Verglichen mit wem?, Anm. dpr) gut erzählt und für den, der brutale Märchen mag, eine amüsante Lektüre.“ Um dann im nächsten Satz den Todesstoß zu setzen: „Doch bringen beide (gemeint sind „Der vierzehnte Stein“ und „Die dritte Jungfrau“, Anm. dpr), da sie ihre Morde keinem realistischen Motiv, sondern lediglich der Willkür ihrer Erzählerin verdanken, den Mord zweifelsohne in jene chinesische Vase zurück, aus der ihn Dashiell Hammett laut Raymond Chandler mit großer Mühe und sehr zum Nutzen des Genres herausgeholt hat.“

Kein realistisches Motiv? Willkür der Erzählerin? Was wäre überhaupt ein „unrealistisches Motiv“, was anderes als erzählerische Willkür schafft überhaupt Literatur? – Und müssen VerfasserInnen von Kriminalromanen im 21. Jahrhundert immer noch dem – gewiss eminent bedeutenden – Diktum Chandlers folgen? Der hatte den nun ohne Frage realitätsfernen englischen Landhauskrimi im Visier, aber Fred Vargas schreibt keine Landhauskrimis, sie experimentiert auf ihre Weise mit Wirklichkeit. Und das ließe sich historisch herleiten, denn die Entwicklung des Genres – und somit das Entstehen von „Typen“ – wird entscheidend geprägt von den unterschiedlichen Ansätzen, sich mit Wirklichkeit zu beschäftigen, sozialer, politischer, psychischer… Ein Derek Raymond etwa, der gewiss nicht im Besitz chinesischer Vasen war, geht in seiner Interpretation von Wirklichkeit bereits weit über Hammett / Chandler hinaus, im Werk eines Jerome Charyn herrscht eine „Willkür des Erzählers“, gegen die Fred Vargas‘ Herangehensweise wie biologischer Determinismus wirkt… Und so weiter und so weiter, auch hier: Hat man den Faden einmal in der Hand, will er partout keine Ende finden.

Mag sein, dass diese Sicht das Projekt eines „Standardwerks zur Kriminalliteratur“ von Anfang an unmöglich machen würde, eines häppchenweise servierten, nur in Spurenelementen analytischen Gangs durch die Weltkriminalliteratur also. Man wird, um es zuzuspitzen, Chester Himes nicht verstehen, wenn man Sherlock Holmes nicht verstanden hat, den Zusammenhang von Krimi und Gesellschaft geringschätzen, wenn man etwa die Frühgeschichte der deutschen Kriminalliteratur so dezidiert NICHT kennt wie Schmidt. Und müssen wir wirklich noch einmal Brecht und Bloch als „Krimiexperten“ vorgesetzt bekommen, wenn die Frage „Was zum Teufel ist ein Kriminalroman?“ zur Diskussion steht?

Hier zeigt sich am deutlichsten, dass Schmidts größte Stärke die immense Belesenheit ist, seine Schwäche indes das Unvermögen zur eigenständigen Analyse. Das ganze Elend offenbart sich ausgerechnet dort, wo Schmidt heftig zu loben beginnt, etwa in dem mit zehn Seiten ungewöhnlich langen Artikel zu Friedrich Ani. Dass dieser für Schmidt die Krone hiesiger Kriminalproduktion darstellt, wird zwar behauptet, aber nicht wirklich begründet. Statt dessen wie gehabt: Nacherzählungen, Nacherzählungen, Nacherzählungen. Kein Wort über Anis Sprache (was auch verwundert hätte, spielt sie im Schmidtschen Krimikosmos doch auch sonst keine nennenswerte Rolle) oder seinen von Anfang an merkwürdig starren Erzählgestus, über den sich herrlich und sicher auch aufschlussreich streiten ließe.

Es bleibt festzuhalten: Die Lebensleistung Jochen Schmidts in allen Ehren. Doch wenn uns „Gangster, Opfer, Detektive“ eines klarmacht, dann die Tatsache, dass man Kriminalliteratur nicht allein vom Standpunkt einer MEINUNG aus auffächern und mit Hilfe von angeblichen Gesetzmäßigkeiten in „gelungen“, „na ja“ und „missglückt“ kategorisieren kann. Kriminalliteratur entsteht, wie alle Literatur, aus der Wirklichkeit derer heraus, die sie schreiben und lesen. Alles ist miteinander verknüpft, nichts vergeht wirklich, selbst dann nicht, wenn es anachronistisch geworden ist. So befinden wir uns gleichermaßen in einem Museum und einem komplexen evolutionären Prozess. Das Museale fließt, das Fließende erstarrt, was literarisch „minderwertig“ sein kann, entpuppt sich als künstlerisch notwendig und umgekehrt, Krimis sind experimentelle Haikus, Jamben, die sich anstrengen, Trochäen zu werden… „Gangster, Opfer, Detektive“ sieht hingegen Kriminalliteratur als eine statische Veranstaltung, bei der nur gern gesehen ist, wer der Gesichtskontrolle des Autors standhält und bereit ist, sich mit den Standardtänzen des Genres zu begnügen.

Es bleibt Jochen Schmidts unfreiwilliges Verdienst, uns mit seinem gewaltigen Werk noch einmal verdeutlicht zu haben, dass enzyklopädischer Anspruch bei gleichzeitiger Horizontbeschränkung nicht der richtige Weg zum Verständnis von Kriminalliteratur sein kann. Der Wert des Buches liegt darin, als eine Art negative Blaupause zu wirken, die uns Anregungen für geeignetere Ansätze geben sollte, die eins ganz gewiss nicht sein können: allumfassend. Man wird etwas anderes von ihnen erwarten dürfen: Tiefe.

(siehe hierzu auch →die Kritik von Ulrich Noller, die das Gesagte unterstreicht sowie weitere Aspekte und Exempel benennt)

10 Gedanken zu „Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive (Schluss und darüber hinaus)“

  1. doch, ich denke Sie täuschen sich: Kriminalliteratur war vermutlich nur in der kurzen Zeit zwischen 1945 und 1965 (Alewyns Artikel in der „Zeit“) _nicht_ in den Feuilletons präsent. Davor aber durchaus, mutatis mutandis seit dem frühen 19. Jh. (Und vermutlich kann man die zwanzig Jahre weitgehend auf das Konto ‚Antiamerikanismus‘ buchen.)

    Beste Grüße

  2. Ich hab die Neufassung gar nicht angeschaut, aber der „alte“ Jochen Schmidt hat mich damals extrem geärgert – er hatte den Gestus eines Papstes (und wurde auch breit so verhandelt) und schwenkte dauernd ziemlich engstirnige Wertungen und Zuordnungen, die ich als wahnsinnig konservativ empfinde. Bin ihm nie begegnet, hatte aber aus seinen Texten das Vorurteil „selbstgerechter satter Patriarch“. Und viel zu viele beten ihn nach. Da hilft es mir auch nicht, dass der Herr unglaublich belesen ist – alles für die Katz. Aber mein Dank gilt Ulrich Noller und dpr für so wohlwollend differenzierte Beanstandungen. DARAUS kann ich nämlich noch was lernen.

  3. Ich muss ja gestehen, die alte Version nicht zu kennen. Als ich mir überlegte, sie anzuschaffen, munkelte man schon von der Neuauflage (auch schon wieder einige Jahre her), also hab ich gewartet. Je mehr ich den Kasus bedenke, desto klarer wird, dass ein solch ambitioniertes Werk nur als BESCHREIBUNG gelingen könnte, nicht als BEWERTUNG. Wie gute Literatur also… Stelle ich mir extrem schwierig vor und dürfte auch nur annäherungsweise zu verwirklichen sein.

    bye
    dpr

  4. Lieber dpr,

    Ihre Einwände gegen Jochen Schmidts Buch kann ich zwar entweder teilen oder gut nachvollziehen. T-O-D wird denen, die sich schon etwas länger und systematischer mit Krimis auseinandersetzen, nichts bringen.

    Aber wie viele Leser sind das? Nicht so arg viele. Ein Sekundärwerk, das Ihnen und anderen Cognoscenti nahrhaft vorkäme, scheint hierzulande kaum in den Buchhandel zu bringen.

    Mich fasziniert an Schmidts Buch, dass ein Kritiker hier ganz und gar tickt wie der vielbeschworene „normale“ Leser, und das augenscheinlich, ohne sich herablassend zu verstellen.

    Sprache ist Schmidt meistensteils unwichtig (aber interessanterweise stört er sich an unfeiner, also genau wie jene Leser, die Sonntagssprache für fällige Leistung halten, wenn Worte mit ihrem Geld aufgewogen werden). Schmidt interessiert sich für die Geschichten und die Figuren. Die Nacherzählung des Plots scheint ihm die schlüssigste Offenlegung des Wesenskerns eines Buches. Wenn Sie sich Amazon-Kritiken anschauen, dann werden Sie jede Menge Krimikäufer finden, denen Schmidts Herangehensweise sehr liegen müsste (das meine ich jetzt kein bisschen spöttisch).

    Dieses große Lesepublikum denkt und liest so vergnügt ahistorisch, dass es Schmidts Gänge durch die Vorgeschichte aktueller Bestsellerei und Kleinzielgruppenbedienung als wahre Wunderreisen empfinden dürfte. Auf diese Reise lassen besagte Leser sich, wenn überhaupt, wohl nur ein, wenn einer schreibt wie Schmidt.

    Dass die T-O-D-Brumme nun dasteht, wie sie dasteht, nämlich als Zentralaltar deutscher Krimireflexion (und damit den Vorwurf der Hochstapelei auf sich zieht), ist nicht die Schuld von Schmidt. Der kann nichts dafür, dass in Deutschland so wenig anderes an nutzbringender Sekundärliteratur erscheint. Er hat ein Buch herausgebracht, das ganz nah dran bleibt am mehrheitlichen Umgang mit Krimi/Literatur. Mag hie und da ein schlecht untermauertes, ja, kaum verteidigbares Geringschätzungsurteil diesem oder jenem Werk und Werkelnden Unrecht tun: Schmidts Buch wird auf den zwischen Slaughter und Mankell pendelnden Krimikonsumenten eher horizonterweiternd als horizontverengend wirken. Das stimmt mich munter.

    Hoffnungsvolle Grüße,

    tkl

  5. Ich weiß natürlich im Geheimen, dass Sie recht haben, lieber tkl, will es mir aber nicht eingestehen. Es war auch gar nicht arrogant gemeint. Die letzten Jahre haben mich schon ein wenig verändert, was meinen Glauben an den Fortschritt der Krimirezeption anbetrifft: Wir müssen uns mehr mit den „Normallesern“ beschäftigen und dort Türen öffnen; bei den aus lauter Ignoranz krimiverächtenden Highbrowern schaffen wirs nicht, da kämpfen wir gegen zuviel Bildungsschutt. So betrachtet mag GOD als Vademecum und Schmökerstein Gutes bewirken, auf Autoren wie Ross Thomas oder meinetwegen auch Friedrich Ani aufmerksam machen, wo bisher Dan Brown als Genrekrone galt.
    Aber (musste ja kommen): Solls das wirklich gewesen sein? Auch und gerade Genreliteratur definiert sich nicht über das Primat des Inhalts. Auch und gerade Genreliteratur ist ein historisches Konstrukt. Auch und gerade Genreliteratur besteht aus Sprache und zwar nicht jener „Hochsprache“, die Schmidt stillschweigend propagiert.
    Es stimmt schon: Letztlich hat es Schmidt nicht zu verantworten, dass GOD als Standardwerk geführt werden wird. Sondern die Windelweichheit dessen, was als „deutsche Krimikultur“ existiert bzw. nicht existiert. Aber daran lässt sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Hoffen wir beide, dass es genau so kommt: Durch GOD ins Krimiland gelockt, dort heimisch werden – und irgendwann erkennen, dass GOD eigentlich TOD ist. Mehr kann man nicht erwarten.

    bye
    dpr

  6. Bin gespannt, wer die geniale Schlussvolte (GOD = TOD) zuerst klaut… Und natürlich die ebenso geniale fehlerfreudvolle Vorlage vergisst. (Denn wer weiß schon noch, was ein echter Beckenbauer-Müller-Zug ist.)
    Noch ein schönen Sonntag aus dem sonnigen Berlin – P.

  7. Fragen wir uns aber auch, liebe Frau Nie=Che, wer als erster lamentiert, dpr wisse nicht zwischen TOD und TOT zu unterscheiden und sei folglich eines Krimikritikers unwürdig. Aber wenn ich tkl zum Beckenbauer habe, mach ich müllermäßig natürlich jede Vorlage rein. Notfalls mit der Hand.

    bye
    dpr

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