Peter Robinson: Wenn die Dämmerung naht

(Wenn die Dämmerung naht, widmet sich unsere Fachrezensentin Anna Veronica Wutschel steckenpferdmäßig gerne den blutigen Untaten mörderischer Pärchen. Weil sie bei beginnender Dunkelheit ihr zweites großes Hobby, das Züchten exotischer Schlingpflanzen im heimischen Garten, nicht ausüben kann? Wir wissen es nicht. Lesen Sie also, wie Frau W. ihrem Hobby frönt. Peter Robinson, garantiert schlingpflanzenfrei.)

Wie auf einer Tribüne steht der Rollstuhl gefährlich nah an der sturmumtosten Klippe. Darin sitzt eine querschnittsgelähmt hilflose Frau. Doch jede Hilfe kommt zu spät, denn ein Mörder hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Stark beginnt “Wenn die Dämmerung naht” mit schnellen Perspektivwechseln, viel Tempo, wobei sich Peter Robinson innerhalb der erzählten Szenen ganz auf seine Figuren konzentriert. Doch dann setzt Robinson auf Kalkül und Differenziertheit und versieht sein enorm ausgeklügeltes, glatt geschmirgeltes Roman-Konstrukt mit einer wild eingeläuteten Auflösung und einer Botschaft.

Zwei Todesfälle erschüttern Yorkshire. Während DI Annie Cabbot an der Küste auf einige erschreckende Fakten stößt, die die wahre Identität der Ermordeten im Rollstuhl betreffen, ermittelt DCI Alan Banks im Fall einer vergewaltigten und ermordeten College-Studentin. Erst als Annie einem Hinweis nachgeht, der auf ein Jahrzehnte zurückliegendes Verbrechen verweist, nimmt sie die Witterung des Täters auf. Bald allerdings geschehen weitere Morde, und Annie muss mit Banks, auch wenn ihr Verhältnis zurzeit überaus angespannt ist, eng zusammenarbeiten, da sich ihre Fälle ganz tückisch zu überschneiden scheinen.

Dass Peter Robinson in dem soeben erschienenen 17. Band der Alan-Banks-Reihe auf einen alten Fall des Detectives zurückgreift, scheint ein cleverer Schachzug. Gehört “Wenn die Dunkelheit fällt” nicht nur eindeutig zu den besten Titeln der Serie, sondern lieferte auch eine Menge Stoff, um eine raffinierte Fortsetzung mit versetztem Blickwinkel zu verfassen. Welche Nachwirkungen haben die entsetzlichen Sex-Morde, die das Ehepaar Payne vor Jahren beging? Wie hart müssen die Überlebenden mit ihrem Schicksal kämpfen? Und wie versuchen sie, dieses zuweilen zurechtzurücken? Dazu mixt Robinson einen ganzen Reigen weiterer Verbrechen und hat sich überhaupt, was Spiegelungen, Projektionen, Abstraktionen betrifft, einige Gedanken gemacht. Dabei geht er weniger nuanciert als systematisch vor, wenn er sich an seinem Themenkomplex abarbeitet. Prüderie und Lüsternheit, Liebe, Sex und Perversionen scheinen taugliche Sujets, wenn man von Sex-Morden erzählt. Was allerdings clever und in aller Widersprüchlichkeit geschickt in den Text einführt, überzeugt längst nicht, wenn es in unzähligen Varianten an allen möglichen Figuren durchgespielt wird. Da Obsessionen, wildes Treiben und delikate Ausrutscher nicht selten vom Alkohol beflügelt werden, stellt Robinson dem Leser auch die Trinkgewohnheiten so ziemlich jeder Figur detailliert vor. Und damit klar wird, dass niemand vor Bösem gefeit ist, und Alter altbekannt nicht vor Torheit schützt, spielt der Autor auch noch ordentlich auf der Generationen-Klaviatur.

Dazu legt Banks, der fanatische Musikliebhaber, unermüdlich einen Track nach dem anderen auf den Plattenteller. Klar, das wird jeden Soundliebhaber erfreuen, und nicht selten kann der Song/Text als Link oder Hypertext tiefer gehend Atmosphäre oder gar Handlung nahe bringen. Auf die Dauer allerdings kann diese Obsession des Ermittlers für Leser durchaus anstrengend werden.

So verschaukelt Robinson die entspannt spannende erzählerische Lässigkeit mit der er “Wenn die Dämmerung naht” eröffnet, spießt sich seine Themen vor die Brust und jagt sie akkurat beflissentlich durch alle Bevölkerungsschichten. Dabei hätte sich der Autor wohl eher um die Auflösung kümmern müssen. Zwar scheint diese als logische Folge aus dem Text hervorzugehen, doch ist die Story, die sich um diesen Erzählstrang windet, derart ausgeknobelt kompliziert und unglaubwürdig erzählt, dass sich der Erstverdacht, man läse einen klug spannenden Thriller, immer mehr verflüchtigt.

Was in “Wenn die Dunkelheit fällt” so wunderbar gelang, nämlich true crime in Literatur umzusetzen, scheitert in dem neuen Fall. Spekulationen sind zumeist müßig, doch liegt die Annahme nahe, dass sich Robinson, der seit Jahrzehnten in Kanada lebt, nicht nur von den Pärchen-Morden der Wests, des Hindley-Brady-Gespanns, der Birnies, Gallegos etc. inspirieren ließ. Denn in Kanada sorgte vor allem →der Homolka-Bernardo-Fall für Schlagzeilen. Vor allem als Karla Homolka, mit der die Justiz den so genannten ‘Teufelspakt’ schloss, 2005 nach den von ihr ausgehandelten 12 Jahren Gefängnis entlassen wurde. Ist Karla eine skrupellose Mörderin, Vergewaltigerin, die so clever taktierte, dass sie mit Mitte 30 ein neues Leben beginnen durfte? (Inzwischen soll sie mit neuem Mann und Kind in der Karibik leben.) Oder war sie wirklich das Opfer ihres sadistischen Mannes, als das sie sich darstellte? Viel spricht gegen letztere Annahme, zumindest aber für die kanadische Öffentlichkeit stand spätestens bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis fest, dass Karla Homolka mit ihren ruchlosen Straftaten praktisch davongekommen war. Und es begann eine wahre Hass- und Hetz-Kampagne gegen die Frau, die als ‘Schulmädchen-Mörderin’ bekannt wurde. Die heftigen öffentlichen Reaktionen, die Empörung über einen immer noch brisant aktuellen Fall könnte erklären, warum sich der Autor Robinson dazu verleiten ließ, mit viel Kalkül wenig in der Schwebe zu lassen, Positionen auszuloten, um dann ganz klar, an eng geführter Leine dem Leser die Augen zu öffnen. Damit serviert er allerdings viel zu ausgewogene, gleichzeitig aber lasch verköchelte Kost.

Peter Robinson: Wenn die Dämmerung naht. 
Ullstein 2010
(Friend of the Devil. 2009. Deutsch von Andrea Fischer).
460 Seiten. 22,95 €

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