Und wieder redet jeder vom absoluten Beweis. Von der elektronischen Hochrüstung, der lückenlosen Videoüberwachung, der totalen Kontrolle. Ein Ball kracht gegen die Unterkante der Latte, springt zurück und kommt hinter der Torlinie auf. Kein Tor. Also Fehlentscheidung. Ein Verbrechen, das nicht geahndet wird.
Erinnert mich, nebenbei, an einen Krimi aus dem Jahr 1919, Erich Wulffens „Die geschlossene Kette“, eines jener irrelevanten Werke aus der Geschichte der deutschen Kriminalliteratur, die man nicht mehr verlegen sollte. Auch bei Wulffen träumt man den Traum vom absoluten (Foto-)Beweis, der fortan jegliches Verbrechen unmöglich machen soll. Und erkennt dann, wie die Wirklichkeit dem Traum eine Nase dreht.
Eine Welt ohne Verbrechen, Fußball ohne Fehlentscheidungen, das ist ein Leben ohne Mythen und Legenden, ohne Dramen und, wieder nebenbei, ein Leben ohne Kriminalliteratur, denn wer würde noch einen Krimi schreiben, wenn die dort vorgeführten Untaten entweder gar nicht stattfinden könnten oder sofort und unbezweifelbar aufgeklärt werden würden? Nee, funktioniert nicht, alles perfekt, alles langweilig, alles belanglos.
Und dann: Über dieses eine Fußballverbrechen eines Lattenkrachers wird man noch lange reden. Wer redet aber über das Abseitstor wenige Stunden später, als Argentinien Mexiko besiegte? Wer über das mit der Hand erzielte Tor der Brasilianer gegen die Elfenbeinküste? Wieder Verbrechensanalogie. Während die einen mit allen Mitteln verfolgt und angeprangert werden, begehen die anderen ihre Verbrechen in aller Stille und kommen billig davon.
die (Selbst-)Verständigung im Modus (oder im Medium?) des Verbrechens hat die Schmuddelecken bei RTL2 verlassen. Wenn shit happens, dann gibt es Opfer, und wenn wir Opfer sehen, dann suchen wir die Täter. Und wenn einer Scheiße baut, dann fliegt er zwar, aber das halten wir noch lange nicht für Ahndung. Wäre sie nicht so unmöglich wie die Quadratur des Kreises, dann müßte man von der Säkularisierung der Theodizee sprechen.