Die Detektei Geheimnislos hat ihr kleines Büro im Hinterhof der Literatur. Kein Firmenschild, keine Annoncen, das Mobiliar schäbig, der Detektiv mit der ausgebeulten Polsterung seines Sessels verwachsen, Kriminalromane lesend. Sie langweilen ihn, er wartet.
Manchmal, aber selten kommt Kundschaft. Die Detektei Geheimnislos ist ein Geheimtipp, man flüstert sich den Namen zu, nach erregten Diskussionen zumeist, wenn sich die Gemüter langsam beruhigen und die Enttäuschung alle Köpfe nach unten drückt, bis fast auf den Tisch, bis fast in das Buch, das auf diesem Tisch liegt.
Der Detektiv erhebt sich, versucht es wenigstens, er drückt die Hand des Klienten, den er insgeheim Bittsteller nennt und den er verachtet, er bietet Platz an, sagt „so“ und „Was führt Sie zu mir?“, obwohl er es weiss.
„Das Buch da“, sagt der Klient und kramt ein Buch aus der Tasche. Es könnte der „König Ödipus“ von Sophokles sein, damit hat vielleicht alles angefangen, vor über 2500 Jahren, so lange gibt es die Detektei schon. „Aha“, sagt der Detektiv. „Ja“, antwortet der Klient. „Dieses Buch hat ein Geheimnis und das ist…“ – „Ein Verbrechen“, ergänzt der Detektiv. „Genau“, bestätigt der Klient.
Denn darauf hat sich die Detektei Geheimnislos spezialisiert: Sie macht aus Geheimnissen Erkenntnisse, aus Fragezeichen Ausrufezeichen, aus Nichtwissen Wissen, aus Rätseln Lösungen. Mit anderen Worten: Sie schreitet ein, wenn die Literatur versagt hat, wenn sie den Leser mit einem Geheimnis zurücklässt, für das er nicht bezahlt hat. Ödipus tötet seinen Vater und schläft mit seiner Mutter und wird dafür bestraft, aber warum eigentlich? Er wusste doch nicht, dass… Gretchen hingegen, eine Kindsmörderin, wird errettet und Faust wohl auch. Und wieso will der ALLES wissen? Was hat er davon? Man weiss es nicht. Geheimnisse halt, und deswegen hat sich der Leser nicht hingesetzt und mit dem Lesen angefangen. Er will ja erfahren, er will wissen. Er liebt das Geheimnis, aber nur dann, wenn es aufgelöst wird. Er fürchtet sich vor den erhitzten Diskussionen in einem der repräsentativen Räume der Literatur, die doch alle damit enden, dass das Geheimnis plötzlich so oder so eliminiert werden kann. Und das ist dann wieder ein Geheimnis. Wieso eine Gleichung mit einer Unbekannten mehrere Lösungen haben kann, als wäre man in der Mathematik.
Kafka. Der Detektiv erinnert sich und lächelt. Kafka gibt ihm sein Brot, die anderen liefern die Butter fürs Brot, aber Kafka ist der Haupternährer. Jemand wird in ein Schloss einbestellt und weiß nicht warum und man erfährt es auch gar nicht, vielleicht weil Kafka starb, bevor er die Auflösung formulieren konnte. Jemand wird zum Käfer und weiß nicht warum und man erfährt es auch hier nicht. Da stehen sie bisweilen Schlange vor der Tür der Detektei Geheimnislos, schwenken gelbe Büchelchen und schreien: „Löse diesen Fall, Detektiv!“
Aber der Detektiv lächelt nur. Er kann den Fall nicht lösen, er zuckt mit den Schultern, sieht die Enttäuschung im Gesicht seines Klienten, dann greift er unter den Tisch, wohin er den Krimi getan hat, als der Klient eingetreten ist, und er holt den Krimi hervor, legt ihn vor den Klienten und sagt: „Das kommt davon, weil Sie das Falsche lesen, mein Freund. Literatur ist im Allgemeinen nicht perfekt. Sie löst sich nicht in Wohlgefallen auf, was sie doch eigentlich tun sollte. Deshalb haben intelligente Menschen den Krimi erschaffen. Im Krimi gibt es anfangs viele Geheimnisse, aber alle werden aufgelöst. Nichts bleibt im Dunkeln, nichts ungelöst. Jede Person wird ausgebreitet wie ein…nun ja… ein offenes Buch, gewissermaßen. Für alles gibt es ein Motiv, jeder Nebensatz, der vielleicht geeignet sein könnte, ein Geheimnis zu sein, wird irgendwann durch einen anderen Nebensatz aufgehoben und ist dann garantiert kein Geheimnis mehr. Der Autor führt eine Strichliste. Sobald er ein Geheimnis erschafft, notiert er es sich. Um wenn er es wieder beseitigt, hakt er es auf der Liste ab. So endet alles ohne Geheimnis, ohne Fragen, ohne Diskussionen. Das ist der Sinn des Krimis. Er lässt den Leser dort ankommen, von wo aus er gestartet ist: auf einer weißen Seite Vorsatzpapier.“
Dann ist der Klient gegangen, den „König Ödipus“ hat er draußen in der Mülltonne vergessen, den Krimi, den ihm der Detektiv überlassen hat, trägt er als kostbaren Schatz nach Hause. Der Detektiv selbst sitzt wieder wartend auf seinem Stuhl. Er hat sich einen neuen Krimi aus der Schublade genommen und zu lesen begonnen. Eine Uhr tickt schwer, ein Pendel schwingt. Und so vergeht die Zeit in der Detektei Geheimnislos.
Krimis, die einen Detektiv langweilen, die sein Klient aber „als kostbaren Schatz nach Hause“ trägt – wenn das nicht DAS Geheimnis ist! Oder Dialeckticktick? The message?
Sach DU ma.
Mit herzlichen Grüßen, Mimi.
Vielleicht ist ja Langeweile der kostbare Schatz, Mimi? Denk mal drüber nach. Und wenn du dich dabei langweilst, wirds schon stimmen…
bye
dpr