Frank Göhre: Der Auserwählte

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Frank Göhres „Der Auserwählte“ ist die Höchststrafe für einen Krimikritiker. Denn nichts will passen, nichts erfüllt die Erwartungen. Die Koordinatensysteme des Genres ächzen, im Prokrustesbett der Versatzstücke passt es hinten und vorne nicht, klarer Fall von versemmeltem Krimi, denkt man – und liest dennoch weiter, von Enttäuschung zu Enttäuschung, und am Ende legt man das Buch zufrieden aus der Hand und ärgert sich darüber, dass man sich nicht ärgert.

Dabei hat Göhre doch allerhand zu bieten, was nach der Krimiform schreit, das übliche Procedere eben. Eloi („der Auserwählte“), Sohn einer reichen Industriellen, ist entführt worden. Er hat ein bisschen gedealt und dabei David kennengelernt, einen Illegalen aus Guinea-Bissau, zuerst nach Gomera geflüchtet und dort unter Althippies geraten, zu denen einst auch Bettina, Elois Mutter, gehörte. Man hatte in einer Kommune mitsamt Guru gelebt, es ging um Sex und Utopien und am Ende stand die Ernüchterung. Dann kommt Bettinas Tochter ums Leben, die Trauernde kehrt zurück nach Hamburg, heiratet einen Schulfreund, Eloi wird geboren, Vater unbekannt, ein anderer Schulfreund könnte es sein, man weiß es nicht. Es gibt noch weitere alte Bekannte von Bettina, den korrupten Expolizisten beispielsweise, der gegen den Willen der Mutter ermittelt.

Da hat sich Frank Göhre also ein hübsches Netz geknüpft, ein paar dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit inklusive, einen veritablen Entführungsfall, dazu Stoff für tiefe Gedanken über das unmerkliche Verblassen von Idealen und die Probleme des Daseins an den berühmten Rändern der Gesellschaft. Und was macht er daraus? – Keinen Entführungsroman mit entsprechend reißerischer Dramaturgie. Nicht einmal einen psychologisch unterfütterten Entwicklungskrimi. Die Personen sind die Personen, sie bleiben was sie sind und kein Mensch erfährt, warum aus ihnen wurde, was sie sind. Auch der zentrale Kriminalfall entzieht sich den üblichen Regularien und selbst die spektakuläre Auflösung ist eher verblüffend als logisch. Hier hält uns Göhre dann ein weiteres dankbares Krimisujet hin, Kindesmissbrauch, und weil das Thema aktuell ist, greift so mancher dankbar zu und erklärt „Der Auserwählte“ zum Missbrauchskrimi, aber das ist er eben auch nicht.

„Der Auswählte“ ist ein Kriminalroman über alles und nichts. Göhre hat, so will es scheinen, eine Reihe Menschen durch seine Geschichte geschickt und tun lassen, was sie eben tun. Sobald es darum gegangen wäre, die Dinge zu erklären, ihre Entwicklung nachzuvollziehen, also das zu unternehmen, was in Kriminalromanen viel zu oft und viel zu ermüdend getan wird, nämlich aus jedem Frage- ein Ausrufezeichen zu machen, hat sich der Autor dem einfach verweigert. So sehen wir die Menschen handeln und nichts weiter. Das mag die Liebhaber von Botschaften und mathematisch sauber gezirkelten Geschichten enttäuschen, erfreut aber die Anhänger der These, dass Kriminalliteratur vielleicht Verbrechen aufklären kann, aber das Leben bitteschön weiter im Unklaren lassen soll. So betrachtet ist „Der Auserwählte“ ein Buch für Leser, die nicht wissen wollen, was sie da sehen, sondern die sehen und dann wissen, dass man mehr nicht zu wissen braucht.

Frank Göhre: Der Auserwählte. 
Pendragon 2010. 258 Seiten. 9,95 €

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