„19 Variationen über Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff“ verspricht uns das Buch „So wie du mir“ aus dem Pendragon Verlag. Und ebenso spontan wie traumatisiert erinnert man sich des Textes, Schrecken des Deutschunterrichts, als Lektüre- und Interpretationszwang den Verdacht nährten, ein Studium der Literaturwissenschaft ähnele gewiss einer Runde Folter im Keller der Inquisition. Andererseits: Jahrzehnte später, abgeklärter und der Folter entronnen, hat „Die Judenbuche“ durchaus ihren Reiz. Das liegt, wie Mitherausgeber Walter Gödden in seinem Nachwort treffend erwähnt, „an der elementaren Offenheit des Textes, der mehr Rätsel aufgibt, als er löst“.
Eine Aussage, die uns zu dem Urteil neigen lässt, „Die Judenbuche“ könne nicht einem Genre angehören, dessen erste Pflicht es sein muss, die sehr wohl verlangte Rätselproduktion durch eine entsprechende Herstellung von Lösungen auszutarieren. Zähle die Fragezeichen und geselle jedem ein Ausrufezeichen bei: das ist „Krimi“. Annette von Droste-Hülshoff hat etwas anderes im Sinn – und auch das könnte, wir werden es sehen, durchaus Krimi sein.
Die auf einer wahren Begebenheit fußende Geschichte spielt hauptsächlich um das Jahr 1760 im Paderborner Land. „Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen“, so lautete der Titel der Erstveröffentlichung 1842, schon die Gattungszuordnung macht Schwierigkeiten, denn eine Novelle ist es nach den Regeln nicht, eine „Kriminalnovelle“, wie später des öfteren behauptet, zweimal nicht. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte des Friedrich Mergel, von der Kindheit bis ins Alter, die Geschichte zweier Morde ohne Auflösung, einer Flucht, einer jahrzehntelangen Sklaverei, eines bitteren Endes. Vor allem aber: eine Geschichte voller Mysterien, Widersprüche, Andeutungen.
Schon dass sich die Eltern des Protagonisten finden, ist mit Verstandesmitteln nicht zu erklären. Der Vater ist ein liederlicher, dem Alkohol zugeneigter Choleriker, dessen erste Frau bereits in der Hochzeitsnacht schreiend das Weite sucht. Die Mutter begegnet uns als stolze Frau, die diese Heirat im Grunde nicht nötig hat. Dann, Friedrich ist noch ein Kind, kommt der alte Mergel ums Leben. Er stirbt, von einer feuchtfröhlichen Feier kommend, in Sturm und Schnee im „Brederholz“, das sodann zum mystischen Ort wird, an dem der Geist des Erfrorenen umgeht, als fände er keine Ruhe. Hier wird die Erwartung des Lesers zum erstenmal in eine bestimmte Richtung gelenkt, das was wir heute „Kopfkino“ nennen, projiziert die Bilder eines Verbrechens. Friedrich und seine Mutter sind zum Zeitpunkt des Vatertodes allein zu Haus, der Sturm schlägt gegen die Türen. Da draußen ist ein Mensch, sagt Friedrich, wohl der Vater. Nein, entgegnet die Mutter, es ist nur der Sturm. Und der Leser denkt weiter: Es könnte der Vater sein, aber die Mutter lässt ihn nicht ins rettende Haus. Er soll da draußen jämmerlich erfrieren. Man findet die Leiche schließlich, nicht vor der Tür, aber könnte doch sein, man hat den Toten fortgeschafft. Ein Helfershelfer der Mutter, wofür nur einer infrage kommt: ihr Bruder Simon Semmler.
Der jedenfalls kommt eines Tages und nimmt Friedrich mit sich. Er soll ihm zur Hand gehen, einen Gehilfen hat er schon, einen Jungen namens Johannes Niemand, dem Friedrich wie aus dem Gesicht geschnitten und wohl, aber man erfährt es halt nie genau, Resultat einer sexuellen Liaison des Semmler. Wieder arbeitet es im Leser. Wenn Semmler Friedrichs Vater ist, dann haben wir es mit Inzest zu tun, wie es auf dem Lande durchaus nicht selten war. So etwas sagt man nicht offen, man deutet es an, die Droste-Hülshoff muss uns also etwas durch die Blume erzählen. Wir erinnern uns an Carl von Holteis „Schwarzwaldau“, das ein ähnliches „Tabu“, die „Sodomie“ = Homosexualität, hinter einem anderen, nicht ganz so argen versteckt, der ménage à trois.
Völlig anders nun bei den beiden Mordfällen der Geschichte. Wieder erfahren wir nichts Genaues, ja, im Gegenteil: Die Autorin führt uns an der Nase herum, sie entwickelt das, was man später „suspense“ nennen wird, was wir aber weiterhin als „enttäuschte Lesererwartung“ ansehen wollen. Beim Mord am Förster Brandl, der im Wald mit einer Axt erschlagen wird, gerät Friedrich unter Verdacht. Er hat ein Motiv – und ein Alibi, er hat Brandl mutwillig auf einen falschen Weg geschickt, als der Förster seinen Begleitern nacheilen wollte, die Holzfrevlern auf der Spur waren. Steckte Friedrich mit ihnen unter einer Decke? Wurde Brandl von Semmler erschlagen? Kann sein – kann nicht sein.
Klarer scheint es beim zweiten Mord an dem Juden Aaron. Dem schuldete Friedrich Geld, der hat ihn öffentlich erniedrigt. Und Friedrich, seinen Doppelgänger Johannes im Schlepptau, ergreift sofort die Flucht, was als Schuldeingeständnis zählt. So könnte man es lassen, aber die Droste denkt nicht daran. Sie zaubert einen Räuber aus dem Hut, der kurz vor seinem Selbstmord den Mord an einem Juden Aaron gesteht. Auch hier ein letzter Zweifel, es könnte ja ein anderer Jude Aaron gemeint sein.
28 Jahre später taucht Friedrich, sich als Johannes ausgebend, wieder im Dorfe auf. Er war zum österreichischen Militär gegangen, von den Türken gefangengenommen und versklavt worden. Eine Zeitlang lebt er als Johannes im Dorf, dann aber erhängt er sich just in dem Baum, unter dem einst der Jude Aaron erschlagen wurde und der deshalb die „Judenbuche“ heißt. Glaubensgenossen des Toten haben einen hebräischen Spruch in den Stamm geritzt: „Wenn du dich diesem Ort nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast“.
Das Schicksal, eine höhere Macht hat endlich für Gerechtigkeit gesorgt, die Schuldfrage ist geklärt. Dass dies nicht mit kriminalistischen Mitteln geschehen ist, gehört durchaus zum Instrumentarium all der „Verbrechensgeschichten“ jener Jahre, zum moralischen Anspruch der Texte und zu den Erwartungen der Leser. Was „die Judenbuche“ allerdings von diesen Texten unterscheidet, ist die Verwendung einer Dramaturgie jenes Genres, das es zum Zeitpunkt der Niederschrift und Veröffentlichung noch gar nicht gibt. Die Droste legt Spuren, sie erzeugt Spannung durch Ungewissheit, sie offeriert unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten – und versagt die Antworten. Genau das aber lässt die „Judenbuche“ zu einem „modernen Krimi“ werden, zum roten Tuch für alle Rätselfreunde des Genres, mit dessen späteren Versatzstücken die Autorin das tut, was heutzutage jeder, der nicht profan „Krimi“ schreiben möchte, gerne zu tun vorgibt: Sie spielt mit ihnen.
Aber warum? Es wurde auf jenes Kopfkino verwiesen, das unweigerlich eine Geschichte abspult, die im Text lediglich „angelegt“ ist und der Interpretation, der genauen Lektüre bedarf. Wenn man sich auf das Inzestmotiv einigt, dann wird auch wie beim Mord an Aaron das Schicksal bemüht, die göttliche Strafe. Denn sowohl Friedrichs Mutter als auch ihr Bruder gehen elendig zugrunde, sie verlottern und sterben schließlich als Bettler. Die beiden Morde sind lediglich Beiwerk zum „Sittengemälde“, aber unabdingbares Beiwerk. Denn sie lassen die Schuldfrage offen, sie necken die Ratio, indem sie eine logische Klärung der Verbrechen zugleich begründen und verwerfen. Am Ende entscheidet das Schicksal – wenigstens im Falle des ermordeten Juden. Was den erschlagenen Förster angeht, tappt man weiterhin im Dunkeln. Das Kopfkino spielt weiter seine Filmrollen ab, es kann nicht damit aufhören, es wird nicht damit aufhören.
Und warum „moderner Krimi“? Weil auch er in seiner avancierteren Form längst die Rätselecke verlassen hat, die Verbrechen auf einer anderen Ebene sucht, analog zur „Inzestebene“ bei Droste-Hülshoff. Verbrechen, deren Sühnung uns nicht die Logik des Rechts bringen kann, die sich überhaupt erst erkennen lassen, wenn man sie aus dem Alltag so herausschält wie die Droste es mit dem Inzestmotiv und dem potentiellen Gattenmord getan hat. Um dies zu tun, brauchen wir Anregung, wir finden sie in der Irritation über die beiden offensichtlichen Morde. Sie sind das Eintrittstor zu unserem Kopfkino.
So. Was die 19 AutorInnen des Bandes aus diesen Möglichkeiten gemacht haben, werden wir demnächst sehen. Spannend wird es auf jeden Fall.
wie wahr, wie wahr, lieber dpr: Leichen und Zeichen … (Nur, daß Sie Friedrich in die Buche hängen, das wundert mich. Etwa, weil der Grundherr die Narbe erkennt, die da zum ersten Mal im Text auftaucht (wenn man einmal von Odysseus am Anfang absieht) — und so verwachsen ist wie die Schrift im Baum?) Und was die Genre-Regeln avant la lettre angeht; geschenkt! (Denken Sie nur an Müllner und seinen ‚unwahrscheinlichen‘ Räuber, der traf, als Albus grad abgedrückt hatte und glauben durfte, er hätte geschossen. Boileau (vrai/vraisemblable) hatten sie alle gelesen). Aber, wie gesagt, das Spiel mit den Zeichen hatte niemand (auch später nicht) virtuoser drauf. (Man muß sich nur einmal das Haus mit den merkwürdigen Fenstern ansehen, die alles über die Bewohner verraten, obwohl man nicht durch sie hindurch sehen kann.)
Besten Dank & Grüße!
Schon richtig, lieber Herr Linder. Nichts ist hier eindeutig, weder die Identität des Gehängten noch etwa die Landschaft. Allein die Szene Friedrich / Förster gäbe Stoff für eine ausgewachsene Doktorarbeit. Denken Sie an den armen Hund, der seine Prügel kriegt…