Gespräche über den Krimi -2-

Ein Flughafen, Winter, Schneesturm. Flüge fallen aus, es ist Nacht, die Hotels überfüllt, Gestrandete sitzen auf Bänken, sie schlafen, sie essen, sie hören Musik oder sie reden miteinander, Zufallsbekanntschaften.

Zwei Herren mittleren Alters, gebildet, belesen, sind ins Gespräch gekommen. Man plaudert über Literatur. Die Zeit vergeht, der Schneesturm bleibt. Hören wir weiter zu, was Sie zu sagen haben…
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B: Eine ruhige stürmische See.
A: Äh…wie meinen?
B: Oder ein sanfter Blizzard? Der Schneesturm wird stärker, finden Sie nicht auch?
A: Scheint so. Ich verstehe trotzdem nicht ganz…
B: Ach, ich versuche nur, eine Antwort auf jene Frage zu finden, die Sie mir in den nächsten fünf Minuten unweigerlich stellen müssen. Was ist Krimi?
A: Aha. Und dann weiß ich auch schon die Antwort auf meine ungestellte Frage. Eine ruhige stürmische See, ein sanfter Blizzard. Was mich nun kaum weiterbringt.
B: Mich schon.
A: Schön für Sie. Also lassen Sie mich anpirschen. Es gibt keine ruhige stürmische See und ein Blizzard ist alles außer sanft. Der Krimi wäre demnach also ein Widerspruch in sich, es gibt ihn gar nicht?
B: Wäre eine Möglichkeit.
A: Hm, also gibt es wenigstens noch eine zweite. Der Krimi hat zwei Seelen in seiner Brust, und die können zueinander nicht kommen. Gibt es eine dritte?
B: Ja. Krimi? Das sind wir.
A: Oha, jetzt wird’s existentialistisch! Erklären Sie sich!
B: Haben Sie die Talkshow gestern Abend gesehen?
A: Wenn es der Wahrheitsfindung dient: ja. Not amused, aber Sie kennen ja die Macht der Gewohnheit. Immer die gleichen Fressen, immer die gleichen Argumente, immer die gleichen Nullitäten am Ende. Ich hätte besser ein Buch gelesen.
B: Sie werden lachen: Sie haben eins gelesen. Denn diese Talkshows sind nichts anderes als schlechte Krimis mit einem potentiellen Dreh ins Bessere. Krimi? Das sind wir. Ich sagte es bereits.
A: Also die Talkshow mit… wem noch mal?
B: Jedenfalls mit diesem einfältig tiefgründelnden Herrn, der wieder einmal das Beispiel der Familie mit vier Kindern brachte, deren Hartz-Bezug höher ist als der einer vergleichbaren Familie, die ihr bisschen Geld im Niedriglohnsektor verdient.
A: Ja, ärgerlich. Betrifft ganze 2% der sogenannten Hartzer, von den vielen anderen Einwänden, die man jetzt machen könnte, einmal ganz abgesehen.
B: Ja, aber was ist passiert? Die Leute haben geklatscht. Das Argument des Mannes hatte sie überzeugt, ihr logisches Rechtsbewusstsein war, fürchterliches Unrecht witternd, zuverlässig angesprungen.
A: Oh ja, man nennt das Demagogie. Und das ist also schlechter Krimi?
B: Nicht unbedingt. Es ist Krimi. Ein enges, aus Logik geknüpftes Korsett, von dem wir eins ganz genau wissen: Die Welt ist anders. Irgendwo lauert Komplexität, irgendwo verfrühstücken sich die Kausalitäten selbst. Wenn der Krimi nichts anderes zu bieten hat als jene schlichten „Wahrheiten“ und zusammengeleimten logischen Argumente, dann ist er nichts weiter als eine riesige Talkshow voller Dummschwätzer und Blender. Die Kunst besteht nun aber nicht etwa darin, diese Elemente auszumerzen. Die Kunst besteht darin, auch die Komplexität zu zeigen, auf denen sie fußen. Die eigentliche „Story“ ist Ausdruck von Hilflosigkeit und Sehnsucht. Hilflosigkeit angesichts der Komplexität der Dinge, Sehnsucht nach der Durchschaubarkeit und Bewertbarkeit der Dinge. Auch jene „Gerechtigkeit“, die wir mit „Recht“ verbinden, ist nichts weiter als eine oberflächliche Erzählung. Ja, das Recht selbst ist nichts weiter als demagogisches Fabulieren, brüchige Kausalitäten, hinter deren Fassaden man am besten nicht schaut.
A: Also weg mit den Krimikonventionen!
B: NEIN! Genau das eben nicht! Sie gehören zum menschlichen Wesen dazu!
A: Hm. Ja. Kriminalliteratur wäre also insofern ein sanfter Blizzard, als sie nur vorgibt, die Welt logisch erklären und bereinigen zu können, in Wahrheit jedoch tut sie das genaue Gegenteil. Und beides, so unvereinbar es auch sein mag, ist in seinen Widersprüchen logisch. – Darf ich Ihr Talkshowbild ausmalen, ja? Wer einen Krimi liest, klatscht beständig der haarsträubendsten Demogogie Applaus. Das ewige Morden und Spurensuchen, die dröge Ermittlerei, die immergleiche Logik des „Wenn er um 3 in A war, kann er um 4 nicht in B gewesen sein, es sei denn…“ Doch während man so vor sich hin jubiliert und sich die Nackenhaare aufrichten, kommt einem gemach, gemach der Unsinn des Ganzen in den Sinn. Unter der trivialen Schicht erhebt sich die amorphe Wahrheit…. Ja, schön. Nur: Glauben Sie das wirklich? Überschätzen Sie hier nicht beides, Genre und Publikum?
B: Nun, wir sitzen gerade im einigermaßen warmen Wartesaal, draußen schneestürmt’s, wir reden und reden und natürlich reden wir von der Theorie. Für die Praxis gebe ich Ihnen recht: Krimi lohnt sich nicht. Billige, bisweilen ganz nette Kost, ein Besen, der die Zeit unter den Teppich kehren soll, für denkende Menschen kaum bis gar nicht zu ertragen. Andererseits: Unverächtliche Beispiele, wie das Glattbürsten funktioniert. Hanebüchene Logik, die man jederzeit ins Gegenteil verdrehen könnte, so wie Sie jedes politische Argument jederzeit gegen sich selbst verwenden könnten. Es gibt ein hübsches Buch von Pierre Bayard, „Freispruch für den Hund der Baskervilles“, in dem Schritt für Schritt gezeigt wird, wie der Held des berühmten Krimis von Conan Doyles eine unlogische Schlussfolgerung nach der anderen zieht, um am Ende den falschen Täter zu entlarven. Das Putzige daran: Auch Bayards Lösung kann mit den gleichen Mitteln zu Fall gebracht werden. Das können Sie mit JEDEM Krimi machen: Ihn logisch bloßstellen. Und da ist’s halt wie im richtigen Leben. Doch es gibt Krimis, die zeigen Ihnen, was unter der Oberfläche lauert: das Chaos, die Selbsttäuschung, der bloße Schein.
A: Beispiele, Bester.
B: Nichts lieber als das. „Rote Ernte“ von Dashiell Hammett, ein Klassiker. Für den flüchtigen Leser ein halbwegs spannender Krimi mit whodunit-Elementen und allerhand Blut. Für den genauen Leser ein Beleg der These, dass jene Story, die wir „das Recht“ oder gar „die Gerechtigkeit“ nennen, immer durch Verbrechen konstituiert wird. Oder die Romane einer Fred Vargas. Am Ende erfahren wir, wer’s und wie’s war, aber der Weg dahin! Unlogisch, übernatürlich, märchen- und sagenhaft. SO entsteht das, was wir die objektive Wirklichkeit nennen. Schweigen wir von Jerome Charyn, kein Wort zu dem, was sich gerade in Afrika zu tun scheint, wo sich neben dem Südafrikahype – Bafana, Bafana, es wird nicht mehr gekickt! – eine Kriminalliteratur entwickelt, die das Europäisch-Rationale dem Afrikanisch-Mythischen gegenüberstellt.
A: Nun ja. Ich will Ihnen glauben. Dennoch: Wozu der Aufwand? Was Sie da beschreiben, trifft doch für alle Literatur zu. Es wird erzählt. Und dort wo erzählt wird, wird der Inhalt eines Gehirns vereinfacht, in eine Chronologie, eine Sinnhaftigkeit gebracht, die es ja SO gar nicht geben kann. Nehmen Sie die „Lolita“. Ja, mein Gott! Da geht es doch um ganz etwas anderes! Warum, erklären Sie mir das, muss ich all diese grobschlächtigen Krimi lesen, um etwas über den Zustand der Welt herauszufinden?
B: Sie müssen ja gar nicht. Aber triviale Genres – und Krimi ist das wohl ausgeprägteste – verraten Ihnen mehr über den Zustand der Dinge, als dies die sogenannte „hohe Literatur“ könnte. Krimi appelliert ja immer auch an unserer Gerechtigkeitsempfinden und – aber haben Sie nicht auch Hunger? Sollte ich tatsächlich versuchen, uns einen dieser Teller mit „Kartoffelsalat und Würstchen“ zu organisieren, die man da vorne am Schalter mildtätig und gratis ausgibt?
A: Tun Sie das. Etwas Stärkung könnte ich jetzt gebrauchen.

(wird fortgesetzt)

dpr

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