Was ist Krimi? Neues aus der Zettelwirtschaft 8

Der Zettelkrieg geht weiter. Krisen, Weisheiten und Erkenntnisse, dumme Ideen und Vorschläge, Schwarmintelligenz und Schwarmidiotie. Keine Ahnung, was das noch werden soll.

Zettel 71: Seit vorgestern verfolgt mich das Wort „Schwarmintelligenz“. Die Summe der Einzelmeinungen in einer Menschengruppe ergibt, als statistischer Mittelwert, die bestmögliche Annäherung an eine Problemlösung. Der Einfluss von Menschenmassen auf die Entwicklung des Genres: Massen bei Dickens, Massen bei Poe. Immer ist „Masse“ synonym für den Nährboden von Verbrechen. Bei Le Bon fungiert die Masse als Organismus, der aus Zivilisiertheit Triebhaftigkeit generiert. Das Internet: bester Beweis dafür.

Krisenzettel: Ich bin nichts weiter als ein verfluchter Hirnwichser.

Krisenbewältigungszettel: Satz des Tages: „Oder weil, ganz im Gegenteil, Generationen von Krimilesern durch die politisch korrekte Schule von Sjöwall/Wahllöös Politkrimis gegangen sind, wo die Welt schön handlich in die da oben, wir da unten aufgeteilt ist?“ Hm, dann doch lieber Schwarmintelligenz. Oder Hirnwichserei.

Zettel 72: Der Erfolg des „Schwedenkrimis“ fußt auf der Vermenschlichung der Serienfigur. Sie entwickelt sich in Richtung Verzweiflung oder Erkenntnis, die Grenzen sind fließend. Natürlich wurde das inzwischen längst automatisiert, aber das ist das Schicksal von Genres generell: Sie setzen auf Massenproduktion.

Zettel 73: Die Urkonstellation von Protagonist / Sidekick hat eine quasitherapeutische Funktion. Indem das Genie dem Durchschnittsmenschen das Unerklärliche erklärt, nimmt es ihm die Angst vor den Fragezeichen des Lebens. Der Part des Sidekick sieht vor, dass diese Therapie von ihm schriftlich fixiert wird (nicht umsonst verwandeln bei Poe und Conan Doyle diese Sidekicks das Erlebte in Beschreibbares). Indem sie schreiben, lesen sie ihr Leben.

Zettel 74: Wer von einem „Krimiboom“ redet, kann auch gleich von einem „Musikboom“ reden. Das Genre ist von Natur aus erfolgreich, weil es ein Urbedürfnis befriedigt. Analogie zur Musik: Harmonischer Wohlklang. Freejazzer und Neutöner sind hier wie da verpönt. Vorschlag: Wenn es schon „Musikantenstadel“ geben muss, dann bitte auch „Krimistadel“. Ach so, gibt’s ja schon.

Zettel 75: Die Zukunft des Krimis liegt in der Sprache. Sprache ist das einzige, mit dem man noch schockieren kann, die letzte tödliche Waffe für das perfekte Verbrechen. Sprache ist der Einbruch der Irritation in das Idyll der alten teetrinkenden Lady Dummheit. Wenn sie nicht fatalerweise die Dummheit selbst ist. Womit wir wieder beim Krimi wären.

Weisheitszettel: Wenn du etwas über die geistige Begrenzung wissen willst, lasse intelligente Menschen von Krimis reden.

Zettel 76: Der erste Satz eines Krimis muss immer der letzte sein und der letzte der erste. Seeeehr mysteriös. Also muss es wahr sein.

Zettel 77: Immer wieder erschütternd: die Kommentare von Schülern auf der Krimicouch zu Pflichtlektürekrimis. Man sollte Jugendliche vor Begegnungen mit Dingen schützen, die (noch) nichts mit ihrem Leben zu tun haben können. Wer mit Paulus Hochgatterer gepeinigt wird, entwickelt sich zwangsläufig zum Hochleistungs-Wegleser (funktioniert auch mit Goethe, Thomas Mann et al). Vorschlag: Lasst Schüler schreiben statt lesen, lasst sie ihre eigenen Krimis von der Welt verfassen. Ihr würdet euch wundern.

Zettel 78: Hab gerade eine völlig dumme Idee. Bin Wiederholungstäter. Sollte die Finger davon lassen. Ok, ich fang dann man an.

Zettel 79: Der Krimi bildet die Wirklichkeit nicht ab; die Wirklichkeit schafft den Krimi. Wer also fragt, inwiefern Krimi Wirklichkeit zu reflektieren vermag, muss berücksichtigen, dass das Analysewerkzeug Krimi aus dem Analyseobjekt entstanden ist und somit selbst analysiert werden sollte. Gilt für alle Literatur, für den Krimi aber besonders, wegen der ihm innewohnenden Dialektik von Aufklärung und Verschleierung. Er ist gleichzeitig TÜV und Reparaturbetrieb von Wirklichkeit.

Erkenntniszettel: Wer „kulinarische Krimis“ liest, kauft auch italienische Staatsanleihen.

Zettel 80: Werbemail für einen „gewaltfreien Kinderkrimi“. „Spannendes Abenteuer unterm Weihnachtsbaum“. Warten auf eine Werbemail für „fleischloses Rinderhack“.

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