Ein Genre fällt in sich zu sich zusammen. William Faulkners „Die Freistatt“

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Sanctuary (engl.): Zuflucht, Schutzgebiet, Freistätte, Freistatt (gehoben), Altarbereich, Heiligtum, heiliger Ort

„Schätzen Sie Faulkner im allgemeinen nicht; oder aber nur speziell dieses 1 Buch?“. „Allgemein nich. Und schpeziell schon gleich gar nich.“ (Arno Schmidt, „Piporakemes!“; mit dem „1 Buch“ ist der Erzählband „New Orleans Sketches“ gemeint, den Schmidt übersetzt hatte)

„Im Mai 1929 stellte Faulkner die erste Version des Romans Sanctuary (Die Freistatt) fertig. Das Buch erschien 1931 und behandelt die weibliche Sexualität und den moralischen Verfall. Das Buch, das für damalige Zeiten recht freizügig war und im Pulp-Fiction-Stil verfasst ist, wurde zum Erfolg und machte Faulkner auch im Vereinigten Königreich und in Frankreich bekannt.“(Wikipedia; vergessen Sie „die weibliche Sexualität und den moralischen Verfall“ und vor allem den „Pulp-Fiction-Stil“)

‚To me it is a cheap idea, because it was deliberately conceived to make money. (…) I (…) invented the most horrific tale I could imagine and wrote it in about three weeks and sent it to (Harrison) Smith, who had done ‚The Sound and the Fury‘ and who wrote me immediately, ‚Good God, I can’t publish this. We’d both be in jail.‘ “ (William Faulkner im Vorwort zur Modern-Library-Ausgabe von „Sanctuary“ 1932)

Hat William Faulkner einen Kriminalroman geschrieben? Achtung, der Mann ist Nobelpreisträger! Andererseits: Der Mann wollte endlich einmal mit dem Schreiben Geld verdienen (das verführt auch weniger talentierte Geister zum Krimipfusch). Und: Er war bei der Verfilmung von Raymond Chandlers „The big sleep“ am Drehbuch beteiligt. Einer Anekdote zufolge verknäulte sich diese Arbeit irgendwann so sehr, dass weder der Regisseur Howard Hawks noch Faulkner selbst wussten, wer nun genau wen ermordet hatte und bei Chandler anriefen, der es auch nicht wusste. Einer anderen Lesart zufolge war es Hauptdarsteller Humphrey Bogart, der nach der Filmpremiere diese Frage stellte. Jedenfalls: Faulkner kennt auch die untersten Schubladen der Branche, ein von den Trivialitäten unberührter Dichter war er, obwohl menschenscheu, nicht. Aber deswegen gleich ein „Krimiautor“? Wir werden sehen. „Die Freistatt“ („Sanctuary“) erschien 1931 und brachte tatsächlich den erhofften finanziellen Gewinn. Das Buch ist „skandalös“, weil es nicht nur Sexualität in einigen ihrer bürgerlich tabuisierten Formen thematisiert (Vergewaltigung, Impotenz, „perverse Ersatzbefriedigung“), sondern ein nüchtern ernüchterndes Bild vom Leben in den südlichen Staaten der USA zeichnet, in dem sich offener Rassismus, Bigotterie und Verelendung zu einer gesellschaftlichen Schmierage vereinigen. Das erinnert sofort an Joe R. Lansdale, der nun wirklich ein Krimiautor ist und von Faulkner gelernt haben mag, ohne ihn zu imitieren. Noch ein Wort zu Faulkners Nobelpreis. Er bekam ihn „für seine kraftvolle und künstlerisch selbständige Leistung in Amerikas Romanliteratur“ (offizielle Begründung) 1950 verliehen, allerdings rückwirkend für 1949, als eine „Sperrminorität“ in der schwedischen Jury Faulkners Wahl verhindert hatte. Warum, ist nicht bekannt, das Skandalon „Die Freistatt“ mag eine Rolle dabei gespielt haben, das bleibt jedoch Spekulation. Der Legende nach musste Faulkner von seiner Frau zur Annahme überredet werden.

Der Morast der Geschichte

Der Roman beginnt mit dem klassischen Konflikt von Kriminalliteratur: Gut und Böse treffen sich. Horace Benbow, Rechtsanwalt, hat seine Familie verlassen und ist auf dem Weg in seine Heimatstadt, wo er im Haus der verwitweten Schwester unterkommen will. Er unterbricht seine Reise, um an einer Quelle zu trinken, wo ihn der Alkoholschmuggler und Ganove Popeye überrascht. „Das war etwa um vier Uhr an einem Nachmittag im Mai. Sie hockten da und sahen einander über die Quelle weg an, zwei Stunden lang.“ Dann nimmt Popeye Benbow mit zu einem versteckt gelegenen, heruntergekommenen Haus, Zentrale der Schnapsbrenner um ihren Chef Goodwin. Ein ganz spezielles Völkchen hat sich dort versammelt, Gescheiterte und Zukurzgekommene, darunter eine Frau, ehemalige Prostituierte, mit der Goodwin ein Baby hat, das in einer Kiste liegen muss, um vor den Ratten sicher zu sein. Nach einer durchzechten Nacht kann Benbow das Quartier unbeschadet verlassen und seine Fahrt fortsetzen.

Bereits in dieser Ouvertüre verwandelt sich das Schema von Gut und Böse in das von Reich und Arm, Gebildet und Ungebildet. Es ist die Sprache, die beide Seiten trennt. Benbow schwadroniert in seiner Trunkenheit eine Menge Zeug, das die lauschende Frau nicht versteht („Er ist irre.“) und die ebenfalls lauschenden Männer zu stummen Zuhörern degradiert, denen der Sinn von Benbows Worten verborgen bleibt (der Leserschaft im Übrigen auch). Im Haus seiner Schwester lernt Benbow deren Verehrer Gowan kennen, einen plumpen, blasierten Jüngling, dessen Trunkenheit die Handlung zu ihrem dramatischen Kern führt. Gowan und die siebzehnjährige Schülerin Temple Drake, eine kokette Schönheit aus gutem Hause, steuern Goodwins Heimstätte an, um sich mit Schnaps einzudecken, haben eine Autopanne und müssen die Nacht wie zuvor Benbow in der „Freistatt“ verbringen, womit das Schicksal seinen Lauf nimmt. Lüstern umkreisen die Männer die noch jungfräuliche Temple, während Gowan sturzbetrunken schläft und am Morgen feige Reißaus nehmen wird, ohne sich weiter um seine Begleiterin zu kümmern. Es kommt, wie es kommen muss. Ein Mann wird erschossen, Temple vergewaltigt, der Täter Popeye verschwindet mit dem Mädchen und bringt es im Bordell der Madame Reba in Memphis unter. Goodwin, der die Mordtat anzeigt, wird als Tatverdächtiger verhaftet, Benbow übernimmt seine Verteidigung.

Der Morast des Feinsäuberlichen

Wenn wir für einen Moment davon ausgehen, bei „Die Freistatt“ handele es sich um einen Krimi, wie man ihn, getränkt von leserlichen Erwartungen und als gesetzestreuer Genrebürger, erwartet, finden sich bis zu diesem Stand der Handlung tatsächlich alle Ingredienzien und ausgelegten dramaturgischen Fäden. Wir haben Gut und Böse mitsamt ihrer personifizierten Protagonisten kennengelernt (Benbow / Popeye), ein Transfer aus diesem Abstrakten ins gesellschaftlich Konkrete (arm/reich, ungebildet/gebildet) hat stattgefunden, wer Opfer und wer Täter ist, steht zweifelsfrei fest. Kein Whodunit, doch da unser Held Rechtsanwalt ist, ein fälschlich Beschuldigter auf seinen Prozess wartet und die Tatzeugin Temple verschwunden ist, rechnet man mit einem „Gerichtskrimi“, dem entsprechende Ermittlungen durch Benbow vorausgehen. Um es vorwegzunehmen: Auch die überraschenden Wendungen, Bestandteile jeder Spannungsstrategie, werden nicht fehlen, von den näheren Umständen der Vergewaltigung (die uns Faulkner zunächst wohlweislich verschwiegen hat) bis zur Aussage des Opfers.

Sukzessive beschreibt Faulker nun, wie sich die Dichotomien ausweiten. Temple etwa hat sich in ihrer verzweifelten Lage vorgestellt, sie könne zum Mann werden und damit der Schändung „auf natürliche Weise“ entgehen, nachdem sie zuvor durch das mantraartige Wiederholen von „Mein Vater ist Richter“ beschworen hatte, nicht an diesen Ort, unter diese Menschen zu gehören . Immer stärker tritt auch der Gegensatz von bürgerlicher Scheinmoral und redlicher Wahrheitsliebe in den Vordergrund, der von Schwarz und Weiß sowieso, wenn auch nur als allgegenwärtiges Randthema. Es ist wie eine Flut, die uns all diese Gegensatzpaare zutreibt, um sie dann im weiteren Handlungsverlauf heillos miteinander zu vermengen. Was nun nicht gegen „Krimi“ spricht, höchstens für eine seiner avancierteren Formen jenseits des als kurzweiliges Lesefutter produzierten Schematischen. Hier treffen Welten aufeinander und provozieren Konflikte, die aber dadurch, dass die Trennung dieser Welten immer obsoleter wird, nicht gelöst, sondern verschärft werden.

Dies geschieht auch durch die Sprache selbst, wenn der Jargon der einzelnen Gruppen (Schwarze radebrechen, Heuchler sind bis in die Syntax ordinär, Biedere versteigen sich ins moralisch Gestelzte) immer wieder von herrlich schwurbelnden Sentenzen konterkariert wird, von raunenden Bildern und Metaphern, schachtelsatzweise überhöhter Naturbeschreibung, alles hübsch auf der Grenze zwischen Kunst und Kitsch, wunderbar ausbalanciert über dem Abgrund. Auch hier prallen Welten aufeinander.

Und sie wechseln die Vorzeichen. Wir erleben, wie aus dem Opfer Temple Drake die Täterin Temple Drake wird, nicht aus eigenem Verschulden, sondern ob der Situation, in der sie sich befindet und deren Dynamik sie zwangsläufig in eine andere Klasse Mensch katapultiert. Die Frau Goodwins hingegen erhebt sich in all ihrer störrischen Verzweiflung zur Heldin und immer ist das Kind dabei, dieses kränkelnde, gesichtslose Wesen, das – wie Temple es bei ihrem Besuch in der Freistatt instinktiv weiß – todgeweiht ist wie alles.

Auch die Metamorphosen sind, wie die Initialisierung der dazu notwendigen Kontraste, allgegenwärtig. Im Bordell der Madame Reba werden aus den Gutbürgerlichen wie kaum anders zu erwarten sexsüchtige Heuchler, Rassisten vergnügen sich mit schwarzen Prostituierten usw. Und auch Benbow verwandelt sich, er wird immer mehr vom anfangs vermuteten Positivhelden zur tragischen Gestalt, seine Souveränität ist brüchig, er verstrickt sich heillos in private Traumata, dessen dominierendes und zugleich banalstes darin besteht, dass er für seine Frau jeden Freitag eine Kiste Garnelen vom Bahnhof abholen und nach Hause schleppen musste, wobei ihm stinkende Brühe aus dem undichten Päckchen auf die Hose tropfte.

Heilige Orte

Die Welt ist, auf den Punkt gebracht, ein einziges Chaos. Was man braucht, sind Fluchtpunkte, Fluchtburgen, jene titelgebende „Freistatt“ eben. Diese zu lokalisieren, fällt indes schwer, denn es gibt wenigstens drei davon, wahrscheinlich sogar fünf. Goodwins Hütte natürlich, wo sich das Leben der Ausgestoßenen in einem zwar labilen, aber ausreichenden gesellschaftlichen Gleichgewicht hält. Dann Benbows Elternhaus, in das er schließlich umzieht, ein Platz der Kindheitserinnerungen, der rein bleiben muss, wie es Benbows Schwester verlangt, als ihr Bruder die Frau Goodwins bei sich aufnehmen möchte. Auch Madame Rebas Bordell ist „ein heiliger Ort“, eine Kirche der erlaubten Sünden. Man könnte sogar Temple Drakes Schule dazunehmen, nach deren problemloser Gleichförmigkeit sie sich zurücksehnt, und das Gefängnis, in das Goodwin ohne zu klagen wechselt, als seine ursprüngliche Fluchtburg nicht mehr zu einer solchen taugt. In diesem Gefängnis sitzt auch ein wegen des Mordes an seiner Frau zum Tode verurteilter Neger. Jeden Abend beginnt er, seine Spirituals zu singen, andere Schwarze versammeln sich unter seinem Fenster und stimmen in den Gesang ein. Das ist eine der stärksten Szenen des Buches, sie ist gespenstisch und beruhigend zugleich, das Gefängnis als ein idealer Ort für die gesellschaftlich Geknebelten, der Kerker als Metapher für die weltvergessene Harmonie.

Das hat, nebenbei, eine Menge mit „Krimi“ zu tun, dessen heilige Orte bisweilen heilige Handlungen sind, Maßnahmen zur Wiederherstellung von Recht, Ordnung und Übersichtlichkeit in einer maßstabslos gewordenen, von Verbrechen regierten Welt. Ob man so weit gehen sollte, die Lektüre von Kriminalromanen als eine solche heiligende, weil auch reinigende Handlung zu bezeichnen (und damit den Krimi als quasi heiligen Ort zu lokalisieren), sei jedem als ein mehr oder weniger nützliches Gedankenspiel selbst überlassen.

Das Ende ist der Anfang

Das Finale von „Die Freistatt“ ist so dezidiert „Anti-Krimi“, dass man entzückt „Kriminalliteratur!“ ausrufen möchte. Alles was Faulkner in seiner Komplexität dargestellt und bis zu seiner natürlichen Unkenntlichkeit entwickelt hat, wird hier durch die brutale Banalität des Lebens selbst in seine beruhigenden Bahnen zurückgelenkt und somit erst zum wahren Grauen. Ein paar dreiste Lügen, der große Verallgemeinerer vox populi, die Resignation, das Sichfügen, das zu Benbows Rückkehr zu Frau und Stieftochter führt: Und schon ist alles wie zuvor und nicht mehr so, wie es einmal war. Bis auf das Kind. Dieses zum Tode verurteilte Geschöpf ohne Namen, ohne Geschlecht. In einer der letzten Szenen des Buches erfahren wir etwas über die Lebensgeschichte des „Bösewichts“ Popeye und das ist nicht das übliche „Verbrecher sind auch Menschen“-Plädoyer, es geht weit, weit darüber hinaus und hält den Teufelskreis, den Faulkner beschreibt, am Leben. Es ist kein Erzählzufall, dass man Popeye in jungen Jahren kein langes Leben voraussagte (analog zu Temple Drakes Prophezeiung angesichts des Kindes in der Hütte). Ein verkorkst geborenes, verkorkst aufgewachsenes Etwas von Mensch, nicht einmal wirklich „Mann“, weil sexuell unfähig und zum Zuschauen und widernatürlichen Geschlechtsakten verdammt, und da gibt es nun ein Kind, dem das gleiche Schicksal droht, es ist ihm in die schmutzige Wiege gelegt, es kann ihm nicht entrinnen, Teufelskreis eben.

Ich kann mir nicht helfen, aber jetzt im Nachgang der Geschichte fallen mir Derek Raymonds assoziative Definitionen von „Noir“ ein, wie sie in „Die verdeckten Dateien“ nachzulesen sind. Diese Vermengung von Biografie und Literaturästhetik (denn Raymond definiert hier wohlgemerkt nicht das kriminalliterarische „Subgenre Noir“) mit dem Zielpunkt der schieren Aussichtslosigkeit, ein desaströses Dasein qua Geburt. Faulkners Text kommt mir vor wie eine zusätzliche und kraftvolle Bebilderung dieser Apokalypse.

Und weil ich so schön am Assoziieren bin und in meiner Freistatt doch die aktuelle Welt Stunde um Stunde als Gast begrüßen muss: Der Text beschreibt auch den Mechanismus auswegloser Situationen, in denen das tröstliche Heil der dichotomischen Ordnung (beherrschbar / außer Kontrolle) zum Unheil wird, alles unbeherrschbar wie ein in der Kernschmelze befindlicher Atomreaktor, den man aus der Luft mit Sprühwasser duscht.

Krimi, kein Krimi, ist das wichtig?

Ein Gedankenspiel: Befände sich „Die Freistatt“ im Kanon der klassischen Kriminalliteratur, wenn ihr Autor nicht den Nobelpreis gewonnen hätte? Eine zweite Variante: Fiele Joe R. Lansdale aus diesem Kanon, wenn er den Nobelpreis zuerkannt bekäme? Statt einer Antwort die kleine Anekdote, die zu dieser kleinen Untersuchung des Faulkner-Textes Anlass gab. Auf Facebook legte mir der Verleger des unverächtlichen Pulpmaster-Verlags, Frank Nowatzki „Die Freistatt“ ans Herz, die ihm wiederum sein Autor Jim Nisbet ans Herz gelegt hat. Jim Nisbet hat mit „Dunkler Gefährte“ einen feinen Kriminalroman verfasst, an dem wir die ganze Diskussion um Krimi oder Nichtkrimi genauso durchexerzieren könnten wie bei Chester Himes, Derek Raymond oder eben William Faulkner. Neben der leidigen U- und E-Literatur-Geschichte und dem noch leidigeren Schemadenken wäre bei dieser Diskussion vor allem der Leser mit seinen Erwartungen ins Visier zu nehmen, mit seinen Erwartungen, die eine Les-Art vorgeben, für die der Autor eines Buches „nichts kann“. Die momentan irrwitzigste Form dieser Les-Art gipfelt in dem Lob, ein sogenannter „Regionalkrimi“ erspare den Kauf eines Reiseführers. Das ist etwa so, als würde ich „Die Blechtrommel“ von Günter Grass nur lesen, weil mich Kleinwüchsigkeit interessiert, die „Antigone“ als Dokument antiker Bestattungsriten oder Begräbnisordnungen zu Rate ziehen und Nabokovs „Lolita“ bildungsbereiten Päderasten als Pflichtlektüre ans Herz legen.

Natürlich greifen die einzelnen Parameter bei der Beantwortung der Frage, was Krimi sei und was nicht, erbarmungslos ineinander. Auch hier verbünden sich der verquere Ordnungssinn und das individuelle intellektuelle Chaos, um die Vermarktungsmaschinerie anzutreiben, die ihre Etiketten braucht, um so etwas Komplexes wie „ein Buch“ zu verkaufen. Und ebenso natürlich kann man diesem Prozess nicht entkommen, ist jede vernünftige Rezension zugleich auch ein Definitionsansatz „Was ist Krimi?“, der jedoch im besten Fall die Frage nicht beantwortet, sondern ihren Gegenstand noch mehr aus dem Fadenkreuz befördert und eine neue Justierung der argumentativen Waffen notwendig macht. Und das hoffentlich bis in alle Ewigkeit.

Der französische Schriftsteller André Malraux (der Mann war mal, fällt mir gerade ein, auch Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten) beginnt sein Vorwort zu „Die Freistatt“ mit den Worten: „Faulkner weiß genau, daß es Detektive eigentlich gar nicht gibt; er weiß, daß die Polizei nicht auf Psychologie und Scharfsinn angewiesen ist, sondern auf Denunziation (…)“ und beendet es mit der Behauptung: „Die Freistatt – das ist der Einbruch der griechischen Tragödie in den Kriminalroman.“ Das ist alles richtig, wenn wir das Hauptcharakteristikum der griechischen Tragödie in der Ausweglosigkeit auf Grund der Verhältnisse und der Macht des Schicksals erkennen, „noir by nature“ sozusagen, und wenn wir, worauf Malrauxs erste Feststellung verweist, Faulkners Roman nicht einmal im Traum jener Sorte Krimi zuschlagen, in der Ratio und deduktive Logik heilige Handlungen vollbringen.

Das bringt uns weder dazu, jedwedes Rätsellösen als niedere Kunst zu diskreditieren noch gar die Geschichte von Kriminalliteratur an den Anfang von Literatur überhaupt zu setzen und fortan Sophokles und seine Kollegen als Genrevertreter zu ehren. Das was wir „Krimi“ nennen, ist ein standardisierte und legitime Form, mit den Extremen, den Dichotomien zu hantieren, sie kann, muss aber nicht in die Sphären vordringen, wo Nichtgenreliteratur, wenn sie den Namen Literatur verdient sich immer aufhält, jenseits der Kategorien nämlich. Faulkners Roman hält sich hier auf, er arbeitet mit den Techniken von Spannungsliteratur, benutzt deren dramaturgisches Handwerkszeug, arbeitet MIT Krimikonventionen GEGEN Krimikonventionen und wird dadurch „klassisch“ im Sinne einer Auffassung von Literatur, die das Verbrechen nicht nur als einen Verstoß gegen Regelwerke begreift, sondern als Conditio-sine-qua-non der Existenz. Oder auf Deutsch: Wer lebt, ist Opfer von Verbrechen und Täter zugleich. Das Verbrechen als Lebensbedingung des Menschen oder französisch: „La condition humaine“, was nun, wie schön und nicht zufällig, der Titel des bekanntesten Werkes von – André Malraux ist. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Textgrundlage: 
William Faulkner: Die Freistatt.
Deutsch von Hans Wollschläger, mit einem Vorwort von André Malraux.
Süddeutsche Zeitung Bibliothek (= Band 25). 271 Seiten. 4,90 €

2 Gedanken zu „Ein Genre fällt in sich zu sich zusammen. William Faulkners „Die Freistatt““

  1. Faulkner war Krimivielleser, vor allem in seiner kreuzunglücklichen Zeit in Hollywood. Er hat wohl, wie viele seiner slummenden Kollegen, den klassischen Rätselkrimi bevorzugt. Er dürfte da, um eine auf anderes gemünzte Andersch-Formulierung zu borgen, fasziniert verfolgt haben, wie da welche „den Roman schrieben, ohne den Roman schreiben zu müssen“.

    Was Sie über „The Sanctuary“ sagen, ist mir aufgrund altersblass gewordener Leseeindrücke gut nachvollziehbar. Aber Faulkner hat sich auch näher an die klassische Form herangerobbt und ausprobiert, wie sich die rationalistische Aufklärbarkeitshoffnung in seiner archaischen, irrationalen Blut-, Boden- und Wildniswelt macht, in „Intruder in the Dust“, mehr noch aber in den Erzählungen von „Knight’s Gambit“.

    Es ist ein Vierteljahrhundert her, dass ich Faulkner gelesen habe. Was mir damals an Sekundärliteratur und Biographischem in die Hände fiel, hat sich mit der Krimilektüre des Mannes nur in Nebensätzen befasst. Da wurde nicht viel differenziert. Vielleicht hat sich das mittlerweile ja geändert.

    Es gibt kaum einen Text Faulkners, den die Studierstubentypen von einst nicht der ‚Verbrechensdichtung‘ hätten zuschlagen müssen. Haben sie aber ungern getan, die Schublade ‚ganz große also: (existenziell munkelnde) Heimatliteratur‘ stand ja so einladend weit offen.

  2. Ich weiß nicht, ob Sie gestern Abend die ARTE-Doku über Gallimard, den „französischen Suhrkamp“, gesehen haben, jedenfalls wurde dort auch Faulkner zitiert. Er wünschte sich als Epitaph -sinngemäß: „Er hat Bücher geschrieben und mehr gibt es nicht zu sagen.“ Man kann jetzt darüber spekulieren, ob er Sanctuary mit zu dieser Lebenssumme zählte, hat er doch selbst dafür gesorgt, das Buch zu diskreditieren (nur des Geldes wegen geschrieben, in 3 Wochen – es waren wohl 3 Monate, was immer noch eine reife Leistung ist). Mag sein, dass es ihm zu nahe an dem war, das nun partout nicht zur Hochliteratur gehörte, eben „Genre“. Wobei man feststellen muss, dass ausgerechnet diejenigen, die die Möglichkeiten des Genres Krimi am augenfälligsten nutzten, es als den geringsten unter den literarischen Brüdern behandelt haben (lesen Sie mal, was Arno Schmidt zum „Krimi“ sagt, ojoiojoi, und wie genüsslich er sich seiner bedient).
    Dass wir Faulkner heutzutage in unseren Überlegungen „zum Genre“ einbeziehen, ist natürlich einem erweiterten Ansatz geschuldet und nicht etwa Faulkner, der ein verkappter und nun endlich wiederentdeckter Krimiautor gewesen sei. WIr praktizieren im Grunde das, was andere praktizieren, die Faulkners Werk der „Heimatliteratur“ zuschlagen. Dabei war dieser Autor des „Southern Life“ nichts weiter (aber was heißt schon „nichts weiter“!) als ein Geschichtenerzähler, der genau wusste, dass man eine Story geografisch und soziologisch sehr fest backen kann, um sie aufgehen zu lassen wie einen mit Hefe durchmischten Kuchen. Und dass sich diese Story dann weit über den Rand des „Regionalen“ ausbreitet. Diese Rolle als Treibmittel ins Allgemeingültige spielen meines Erachtens auch die kriminalliterarischen Elemente (und ich meine damit nicht die Indizien von „Verbrechensliteratur“, wie sie die Weltliteratur ja durchziehen). Sie sind die Ansatzpunkte, von denen aus wir Sanctuary über seinen „Heimatcharakter“ hinaus interpretieren können.
    Das mit dem Zusammenstoß von „Aufklärungshoffnung“ und dem Archaischen hat entscheidend damit zu tun, wobei man „Aufklärung“ ja in beiden Wortbedeutungen, philosophisch wie krimiterminologisch, deuten darf. Das ist ja die Crux von Kriminalliteratur: Der Verstand verwickelt sich ins Chaos und produziert Ergebnisse als zivilisatorische Beruhigungsmittel.

    dpr

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