(Was ist ein politischer Krimi? In unserer Diskussion wird es Zeit, Thesen zu formulieren, auch zu polarisieren, Widerspruch herauszufordern. Diese Aufgabe hat dankenswerterweise Else Laudan, Verlegerin der Ariadne-Krimis, übernommen. Einwürfe, Ergänzungen, Bestätigungen der werten Leserschaft sind ausdrücklich erwünscht!)
Zum Start stelle ich ein paar Thesen auf. Die erste lautet:
Es gibt aktuell eine breite Renaissance von scharfen politischen Krimis, die gesellschaftliche Konfliktthemen aufgreifen, klar Sozialkritik üben und dem Anliegen folgen (das ich teile), die Lesenden zu wecken, aufzurütteln. Was Kriminalliteratur auf solchen Feldern leisten kann, habe ich in vielen Facetten erlebt. Sie kann Einiges leisten, wie ich bei Bedarf gern noch ausführe. Aber zunächst noch ein paar Thesen und Behauptungen von mir, um zu klären, was ich unter politischen Krimis verstehe:
Politische Krimis analysieren/entlarven/kritisieren das reale Hier und Jetzt ihres jeweiligen Milieus. Politische Krimis sensibilisieren für gesellschaftliche Ungerechtigkeit, kulturelle Missstände etc. Politische Krimis zeigen, dass und/oder wie die gesellschaftlichen Verhältnisse Leben und Handeln von Menschen steuern/prägen/beeinflussen/determinieren. Politische Krimis zeigen Verbrechen und Gewalt als Produkt von (meist mächtigen) Interessen – das klingt für viele von uns banal, aber angesichts der (manchmal denke ich, krampfhaft gehypten) Psychopathenkrimikultur will ich es betont haben (und angesichts des →Welt online – Artikels von Cora Stephan und ähnlichen Beschwichtigungsfeatures).
Natürlich sagt nichts davon etwas über die literarische Qualität oder den Unterhaltungswert dieser Krimis aus. Entsprechend können wir ableiten: Politische Krimis schreiben Leute, die etwas zur Gesellschaft zu sagen haben. Ob sie schreiben können, ist noch eine andere Frage.
Meiner Erfahrung nach muss man, um GUTE Politische Krimis schreiben zu können, folgende Voraussetzungen mitbringen: Talent zum Schreiben (am besten gepaart mit Lernlust und Kritikfähigkeit), Erfahrung (i.S.v. Lebenserfahrung), eine exzellente, reflektierte Kenntnis des Kosmos, über den man schreibt – das erfordert zugleich unbändige Neugier, ferner ein Anliegen (wer die Welt nicht gern besser hätte, als sie ist, schreibt nicht politisch) und last not least starkes Interesse an und Liebe zu Menschen. Denen, über die man schreibt, und auch denen, die lesen.
Nächste These: Politische Krimis können die Sichtweise oder den „Horizont“ derer, die sie lesen, durchaus verändern, und zwar
a) durch Kenntnisse, Einführung in unbekannte Milieus, Kulturen u.ä.
b) durch eindringliches Zeigen/Verdeutlichen von Verhältnissen, Widersprüchen, Schieflagen, Missständen u.ä.
c) durch Aufgreifen und Reflektieren von selbst gehegten Vorurteilen, Demontage von angenommenen Wahrheiten und ähnliche (möglichst unterhaltsam nahegelegte) Reflexionsangebote. Spezialistin hierfür ist z.B. Christine Lehmann mit ihrer dafür idealen Serienfigur Lisa Nerz. In meiner Vorbemerkung zu ihrem vorletzten Buch „Mit Teufelsgwalt“ hab ich geschrieben:
„Ich bewundere Krimis, die mich nötigen, meinen eigenen Standpunkt anzuzweifeln. Wenn ich mich bei Vorurteilen erwische, beim Denken in Schubladen, wo das Leben eigentlich widersprüchlicher ist – dann ist die Lektüre eine Offenbarung! Lisa Nerz hat mich schon öfter so ins Wanken gebracht. Sie hat so eine Art, in Konflikte hineinzuschliddern und Unstimmigkeiten ans Licht zu zerren. Das muss für sie entsetzlich anstrengend sein – ich aber kann gefahrlos genießen, wie ihre turbulenten Erfahrungen meine Welt weiten und an meinen Ansichten sägen. Zuverlässig entwickelt sich alles anders, als ich vorhergesehen habe, und bleibt doch glaubhaft, wasserdicht …“ In diesem Sinne ver-rückend können gute politische Krimis bis direkt ins Leben hinein wirken.
So viel zu meinen Eingangsthesen. Ich will aber keineswegs bloß die (selbstredend überdurchschnittlich politischen und guten) Ariadne-Autorinnen heranziehen, sondern kreuz und quer durchs Genre diskutieren. Ich hab im Laufe des letzten Dreivierteljahres mal wieder etwas breiter „fremdgelesen“, die Kollegen und die Konkurrenz studiert und allerlei angesagte Krimis (Backlist und Neuerscheinungen) durchgeschmökert, wozu ich leider nur sporadisch komme.
Ein Orientierungspunkt war, was von meiner Meinung nach guten Kritikern besonders gelobt wird. Im vorigen Sommer/Herbst verschlang ich daher Jo Nesbö (mhm), Jean Amila (hm), Fred Vargas (mmmh), viel Deon Meyer (stark), Carol O’Connell (mäßig) und Patricia Cornwell (na ja), einen Ulrich Ritzel (gar nicht schlecht), Anne Holt (immer gut), Dieter Paul Rudolph (gut für den Kopf, wiewohl nicht gerade Identifikationslektüre), Zoran Drvenkar (ich mag seine Schreibe schon seit Cengiz&Locke, aber allmählich überrascht er mich nicht mehr) und John le Carre (hihi, stets souverän, der Schlingel). Über den Winter las ich dann Tana French (gute Autorin), Martin Cruz Smith (solide und doch weit schräger, als ich dachte), Nii Parkes (skurril und samtpfotig), den neuen Don Winslow (puh, superharter Stoff mit Sog), David Peace (gar nicht einfach), Jiri Kratochvil (das war toll), und Robert Brack (interessant) – momentan sind erst wieder Manuskripte dran, bevor ich weiter fremdlesen kann.
Ich schätze, das ist zwar ein selektiv-subjektiver, aber doch irgendwie auch ganz zeitgemäßer Querschnitt durchs Genre. Hinzu kommt, dass ich diese Schmöker unter allen aktuellen ausgesucht habe, indem ich zahllose Rezensionen der von mir ernst genommenen Kritiker überflog, was zusätzlich einen gewissen (wenn auch höchst rudimentären) Überblick verschafft.
Wenn das auf Interesse stößt, will ich gern vorführen, inwiefern die meisten dieser Autorinnen und Autoren politische Krimis schreiben und was daraus Spannendes abzuleiten sein könnte. Oder ich ziehe die genannten und etliche weitere als Beispiele heran, wo es passt, während wir weiter diskutierend voranschreiten. Bitte äußert euch – ich bin gespannt.
Liebe Else, ich bin natürlich sofort über „nicht gerade Identifikationslektüre“ gestolpert und habe sofort an das sogenannte „politische Kabarett“ gedacht. Zu dessen Ungunsten man ja u.a. behaupten könnte, es sei lediglich identifikationsstiftend unter Gleichgesinnten, die man nicht mehr von einer Sache zu überzeugen brauche, während Andersgläubige es gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Andererseits arbeitet das politische Kabarett mit dem Humor wie der politische Krimi mit den Genremustern, was es von den „Comedians“ unterscheidet (und den Politkrimi vom Serienkillerheimatkatzenkrimi?).
Erreicht also auch der politische Krimi über das Spannungsmoment tatsächlich jene, die den Inhalt nicht automatisch abnicken, weil er ihre Überzeugung bestätigt? Oder wird der gesellschaftliche Bezug eines Textes notgedrungen akzeptiert, weil er eben „ein Krimi“ ist? Das wäre dann wie jemand, der mal so richtig ablachen möchte, ins Kabarett geht und sich bei einer Merkel-Parodie (es gibt inzwischen geschätzte 10000 Merkel-Parodisten) kringelt, bevor er wieder sein Kreuzchen bei der CDU macht.
Dies für den Moment, später mehr.
dpr
Bei politischem Kabarett muss ich meist schier heulen, weil es so frustrierend brav geworden ist, pseudobissig und affirmativ … nun, ich kann da eigentlich gar nicht mitreden, weil ich das kaum noch wahrnehme. Krimis hingegen schon.
„Erreicht der politische Krimi über das Spannungsmoment tatsächlich jene, die den Inhalt nicht automatisch abnicken, weil er ihre Überzeugung bestätigt?“ – Das glaube ich wohl. Und zwar meine ich, ganz besonders gut funktioniert das über das „biografische“ Spannungsmoment, welches zur Identifikation einlädt und dazu, sich in eine fiktive Person hineinzuversetzen, selbst wenn sie in einer anderen Kultur lebt oder weltanschaulich fern von einem selbst ist.
In „Arme Leute“ fühlte ich mich sehr geistreich und klug unterhalten und zugleich auf Distanz gehalten. Wie eine Einladung zum Zuschauen bei einem Geschehen. Die Schreibe macht sofort Bilder in meinem Kopf – was ich ausdrücklich als eine Qualität empfinde -, es sind dem Gefühl nach jedoch immer gezeigte, nicht erlebte Bilder (was hingegen rein gar nichts über die Qualität sagt, nur über meine Perspektive als Leserin). So „gibt“ mir die Lektüre von „Arme Leute“ viel für den Verstand, das ist gut, ich mag diese Twists, die widersprüchlichen Wahrheiten und Realitätsknoten, den realsatirischen Blick in die Parzellen der kleinstädtischen Wabe … soll heißen, kopfmäßig fehlt mir da wirklich nichts. Als frivole Genussleserin suche ich jedoch auch nach Empathie-Einladungen, und da ist das Angebot nicht so üppig. Und ich finde die Frage sehr spannend, woran das eigentlich genau liegt (es könnte sogar ganz allein an mir liegen) …
Genau dieses „biografische Spannungsmoment“ meine ich, wenn ich im Zusammenhang mit politischen Krimis von „trivialen Mitteln“ rede. Das ist ja überhaupt nicht negativ, sondern lediglich feststellend gemeint und fürwahr nicht auf den Krimi beschränkt, nicht einmal auf das, was man gemeinhin „Trivialliteratur“ nennt. Literatur funktioniert am besten über die Ebene der Identifikation, das entspricht einem fundamentalen Wunsch der meisten LeserInnen und sorgt u.a. für die notwendige Empathie, ohne die z.B. Spannung sehr viel schwieriger zu erzeugen ist. Besonders beim Krimi hat dies allerdings einen Nachteil, den der Projektion eines Idealzustandes auf den „Helden“, mit dem man sich als LeserIn identifiziert. Er muss möglichst „sympathisch“, möglichst „gut“, möglichst „erfolgreich“ sein (wobei das alles in den letzten Jahrzehnten relativiert wurde, ist mir schon klar)und, jetzt kommen wir zum Affirmativen, er darf möglichst in seinem Verhalten, seinem Weltverständnis nicht allzu sehr von unserer Leser-Ideologie abweichen. Nabokovs Humbert Humbert wäre ein miserabler Krimiheld, weil er sofort das Gros der Leserschaft abschrecken würde. In „Arme Leute“ ist es zwar nicht ganz so arg (ok, ist auch nicht „Lolita“), aber die Distanz entsteht zum einen durch die Direktheit der Ansprache an die LeserInnen, zum anderen durch das explizite „Nicht-Held-sein“. So jedenfalls war es gedacht. Scheint funktioniert zu haben, die Verkaufszahlen sprechen leider dafür…
bye
dpr
Ich fische leider im Trüben. Nach Euren Beiträgen weiss ich überhaupt nicht mehr, was ein Polit-Krimi sein soll.
Schöne Feiertage, und ich habe noch viel Gelegenheit, darüber nachzudenken.
LG
Ingrid
Geht mir genauso, Ingrid. Mein Kopf raucht.
Auch von mir schöne Ostern,
Leanne
Das ist schön… und ganz normal, geht mir auch so, wenn ich mir Gedanken über „Krimi“ mache. Je mehr man drüber nachdenkt, desto verschwommener wird alles. Vielleicht soll das so sein? Vielleicht muss das so sein? Nutzt die Ostertage…
bye
dpr
Es geht um politische Krimis nicht (nur) um Polit – Krimis (bzw. Thriller)?
Tut es, lieber Johannes. Wobei das Spannende natürlich die Trennung zwischen beidem sein dürfte. Und die Frage nach dem Politischen generell.
Weil ich mich so gern weit aus dem Fenster lehne, bin ich versucht zu behaupten, das Genre Krimi ist eigentlich seiner „Natur“ nach politisch – und wo es das nicht ist, ist es überflüssig … Aber das ist natürlich eine (vergnügte) Provokation.
Was die rauchenden Köpfe betrifft: Wir sondieren ja gerade erst, von wo wir diese (hoffentlich vielschichtige) Diskussion am besten aufrollen können. Ich dachte, über konkrete Bücher zu sprechen vereinfacht uns den Einstieg – und dabei habe ich auch „Arme Leute“ von dpr einbezogen, und schon ergab sich daraus ein Dialog über die Wünsche beim Lesen und die Intention des Autors.
Meine Bitte an alle, die das Thema interssiert, wäre diese: Macht doch auch Listen, was ihr gelesen habt und spontan als politische Krimis bezeichnen würdet (nicht nur Politthriller im engeren, sondern „politisch“ im weiten Sinn). Dann kriegen wir am besten raus, welche Beispiele wir (fast) alle kennen und ob meine Kriterien überhaupt irgendwie brauchbar sind.
Sonnige Grüße, Else
Kleine Anmerkung noch: Wenn man ein Buch „Arme Leute“ nennt, sollte man eigentlich meinen, das wäre auch ein klarer Hinweis auf „was Politisches“. Wie man sich manchmal täuschen kann (einige wenige Rezensenten ausgenommen).
Ich würde nie einen Krimi lesen, weil er politisch ist. Literatur ist die Möglichkeit, das Leben so wahr wie möglich und mit allen erforderlichen – daher oft ungeahnten – Mitteln zu beschreiben. Dies geht vor dem Politischen. Wenn ein Buch ein politisches Thema hat, darf es die Beschreibung der Personen, die Handlung etc. niemals als Mittel zum Zweck oder als etwas Nebensächliches ansehen. Vor allem die Sprache nicht. Vorstellungen wie „Ich schreibe in einer konventionellen Sprache, um mein Anliegen besser unter die Leute zu bringen“, finde ich falsch.
„Wenn ein Buch ein politisches Thema hat, darf es die Beschreibung der Personen, die Handlung etc. niemals als Mittel zum Zweck oder als etwas Nebensächliches ansehen. Vor allem die Sprache nicht.“ Ja, das finde ich auch, ganz genau!
Zwar würde ich persönlich durchaus versuchen, einen Krimi zu lesen, von dem ich gehört habe, dass er besonders politisch ist. Aber wenn er schlecht geschrieben oder unplausibel oder aus sonstwelchen Gründen kein Lesegenuss ist, steige ich aus und lege ihn weg. Die Erzählsprache muss m.E. zur Konstellation aus Milieu, handelnden Figuren und Perspektive passen. Schriftstellerische Fähigkeiten sind noch keine Garantie dafür, aber hilfreich … Wie ich in meinen Thesen schon dargelegt habe, glaube ich, dass ein leidenschaftliches Interesse an Menschen Voraussetzung ist, um gute politische Krimis zu schreiben – folglich können die handelnden Personen bei guten Autoren eigentlich nicht zur Nebensache geraten. Bei Dominique Manotti zum Beispiel ist es im Gegenteil so, dass ihre Figuren (trotz knapper, schneller Sprache) sehr sorgfältig, geradezu intim angelegt sind. Dadurch, dass man sozusagen den Antagonisten genauso in den Kopf guckt wie den Sympathieträgern, ergibt sich noch mehr Spannung.
Noch ein Einspruch @ dpr:
((Du schreibst oben: Besonders beim Krimi hat dies allerdings einen Nachteil, den der Projektion eines Idealzustandes auf den „Helden“, mit dem man sich als LeserIn identifiziert. Er muss möglichst „sympathisch“, möglichst „gut“, möglichst „erfolgreich“ sein (wobei das alles in den letzten Jahrzehnten relativiert wurde, ist mir schon klar)und, jetzt kommen wir zum Affirmativen, er darf möglichst in seinem Verhalten, seinem Weltverständnis nicht allzu sehr von unserer Leser-Ideologie abweichen.))
– Das sehe ich anders! Also, rein ökonomisch mag das vielleicht ein Stück weit zutreffen und z.T. auch erklären, wieso manches so breit ankommt und anderes nicht. Aber nicht durchgehend! Hast du mal die Eva Wylie-Trilogie gelesen? Die wandelnde Antithese dazu! Auch die mega-erfolgreichen Krimis von Fred Vargas verlocken zur Identifikation mit Figuren, deren Verhalten wie auch Weltverständnis nur als abweichend zu bezeichnen ist. Und mir fallen noch etliche Beispiele ein, wo die Handlungsträger gerade deshalb so geliebt werden, weil sie schrullig, sperrig, abnorm, herausfordernd sind. Vielleicht ist die höchste Kunst im Trivialen gerade das Erschaffen von Identifikationsfiguren, die in uns den (im Alltag Vieler oft verkümmernden, aber insgeheim gepflegten) Rebellen und Querdenker, den Nonkonformisten und Hinterfrager ansprechen. Das jedenfalls ist eine sehr elegante Form der unterhaltsamen Politisierung, scheint mir … oder?
Natürlich geht das in Deutschland oft erst dann, wenn der Erfolg woanders längst passiert ist, womöglich ist das sogar dasselbe Syndrom wie der Umstand, dass TV-Serien wie „Breaking Bad“ hierzulande auf keinem Kanal ausgestrahlt werden. Ich habe manchmal den Verdacht, da gibt es eine breit wirksame Lobby, die findet, das ist zu weit weg von der hiesigen Publikums-Ideologie. Natürlich unerstelle ich dir nicht, dass du das Lesepublikum bevormunden willst. Aber vielleicht unterschätzt du es?
Weder über- noch unterschätze ich das Publikum, ich schätze es überhaupt nicht *scherz. Ich bin aber dennoch davon überzeugt, dass das Gros der Leserschaft eine Identifikationsfigur braucht, eine/n Sympathieträger/in. Keine Frage, die windschnittigen Typen sind out, dafür haben schon die Schweden gesorgt mit ihren „zerbrechlichen Helden“. Die aber dennoch weiterhin Sympathieträger bleiben, gerade weil sie nicht perfekt sind. Du hast natürlich recht, wenn du das Vorhandensein einer Gegenbewegung betonst, die auch ihre Leserschaft hat (sogar Liz Cody…). Auch das wäre natürlich ein lohnendes Nebenthema: der Wandel der Sympathieträger, der auf einem Wandel der Lese(r)erwartungen beruht.
die frage ist ja auch, wie wollen wir hier politisch überhaupt definieren?
um mal wieder zu einem konkreten buch zurückzukehren: ich habe gerade das erste kapitel von arjounis cherryman jagt mr. white gelesen.
sowas von politisch – und es taucht als thema gar nicht auf….
und das ist meiner meinung nach die große kunst – nicht nur in einem krimi – zu zeigen, wieviel politisches in der alltäglichsten begebenheit steckt.
Ich behaupte einfach mal, dass ein Krimi nur so gut, so politisch sein kann, wie der Boden, auf den er fällt, es zulässt.
Welch ein Zufall ;-), Federfrau, dass ich auch gerade Jakob Arjounis Cherryman jagt Mr. White lese. Sehr politisch, mehr dazu, wenn es ausgelesen ist.
Am Wochenende habe ich Totenacker vom Autorentrio Leenders, Bay, Leenders gelesen. Auf den ersten Blick ein typischer Regio-Serienkrimi (Band 14 (!) um das Klever KK11 mit stereotypen Charakteren). Auf den zweiten Blick ein wundervolles Werk, das Stellung bezieht, ganz klar den Finger in Wunden legt. Sehr politisch, interessant und bietet Stoff zum Nachdenken. Die Erzählstränge sind vielseitig und trotzdem ist das Buch an keiner Stelle überladen. Auf der einen Seite ein alter Fall (es geht um Euthanasie), auf der anderen Seite geht es um genmanipuliertes Gemüse, die Machenschaften gewisser Institutionen, das Problem der Welternährung im Allgemeinen.
Dieser Krimi steckt ganz eindeutig in einer Mogelpackung, im positiven Sinne.
Dabei fällt mir auf, dass im Moment viele Neuerscheinungen den 2. Weltkrieg zum Thema haben (Borrmann, Kutscher, Leenders, Zweyer) ein Trend? Oder selektive Wahrnehmung meinerseits?
nur ein schneller Nachtrag zu Elses Einwurf, die Protagonisten betreffend. Ganz symptomatisch ist Lisbeth Salander von Stieg Larsson, ohne die der phänomenale Erfolg der Trilogie gar nicht zu erklären ist. Die Bücher GEBEN sich politisch, die Heldin bietet für jede/n Leser/in die passende Identifikationsmöglichkeit. Sie ist Opfer und Täter, sie quält und wird gequält, sie ist Spielball und Spielerin, Sexualobjekt und Sexaktivistin etc. Das könnte man negativ als die große Beliebigkeit deuten, positiv als die Erfindung des Protagonisten / der Protagonistin als Bündelung von Widersprüchen. Inwieweit das politisch ist? Vielleicht gar nicht, vielleicht sehr.
@Federfrau: Sehe ich auch so. Das Politische in den Alltäglichkeiten, ist mir gerade wieder bei Anna Goldmann, „Das Leben ist schmutzig“ aufgefallen.
@Leanne: Ich denke, dass dieser Trend zum 2. Weltkrieg schon seit geraumer Zeit zu beobachten ist. Man müsste das mal im Rahmen der sogenannten „historischen Krimis“ untersuchen, die ja auch häufig vorgeben, „politisch“ zu sein, schon weil sie ohne die Schilderung / Deutung politischer Ereignisse gar nicht auskommen.
bye
dpr
Wenn man davon ausgeht, dass auch Krimis und die dazugehörigen Leser den Gesetzen der Gaußschen Normalverteilung unterliegen, dann gehören Elses Kriterien für den sozialkritischen/politischen Krimi nebst seinen Lesern genauso wie die hier Diskutierenden eindeutig zu den statistischen Ausreißern bzw. Aussenseitern.
Diese Gedanken kamen mir, als du (dpr) die Larsson-Trilogie erwähntest (Bd. 2 und 3 sind enorm gut weggekommen vom KC-Rezensenten), wobei sich hier wahrscheinlich alle einig sind, dass man sie nicht lesen muss. Ich habe nach Band 1 aufgehört und kann eigentlich nicht mitreden.
Ich glaube sogar behaupten zu können, dass alle, die hier mitreden oder mitlesen, ähnlich alt sind, wahrscheinlich alle ein mehr oder weniger unnützes Studium absolviert haben und bei 90% der stinknormalen (s.o.) Krimileser (Neuhaus, Klüpfl-Kobr-Fans) nur ein dramatisches Verdrehen der Augen hervorrufen.
So, mir war danach, mal ein bißchen zu provozieren.
Dramatisch die Augen verdrehen? Das tue ich noch nicht einmal bei LiebhaberInnen irgend welcher Musikantenstadel. Bei allem anderen könntest du verflixt nahe bei der Wahrheit liegen. Nun ist aber die „Krimiszene“ so heterogen, dass man auch für 20-30jährige Realschüler eine statistische Ausreißerschaft ermitteln könnte. Müsste man mal machen: Krimiliterarische Vorlieben nach Alter, Geschlecht, Wahlverhalten, Schulbildung…
ohweh! ich bekenne mich als stieg larsson leserin. und ja – ich habe sie verschlungen.
politische krimis sind sie dann eher nicht….
vielleicht kann man sagen, je realistischer ein krimi, desto politischer ist er? so ganz ohne politik kommen am ehesten diejenigen aus, die an der grenze zur phantasy angesiedelt sind.
Hm, liebe Federfrau, dann machen wir aber das größte Fass von allen auf: Was ist realistisch? Ich denke, man sollte einmal ein paar konkurrierende Thesen über das Politische in den Raum stellen. Ok, ich setz mich dran.
Übrigens fand ich den ersten Teil der Larsson-Trilogie nicht schlecht – bis Fräulein Salander auftaucht. Aber „politisch“ sind die Dinger schon, jetzt das Politische ganz grob formuliert. Es geht u.a. um faschistoide und frauenfeindliche Strukturen innerhalb der Polizei ( Sjöwall / Wahlöö lassen grüßen), um Wirtschaftskriminalität und die Bedrängnisse, denen freie Presse ausgesetzt ist. Allerdings hatte ich den Verdacht, Larsson hantiere hier nur mit Versatzstücken, um „gesellschaftskritisch“ zu sein.
bye
dpr
diesen eindruck hatte ich bei der larsson trilogie auch – so als hätte er sich puzzle steinchen rausgesucht, aus denen sich eine gute story basteln lässt und die gerade „in“ sind.
na gut, wir wollen ja auch nicht werten,was „richtig“ politisch ist (erstmal), darum nehme ich das nicht politisch zurück…also doch politisch.
was ist politisch?
fangen wir doch einfach an: politik kommt vom griechischen polis – alles was das gemeinwesen betrifft. bei den römern wurde dann die res publica draus, mit einer ähnlichen bedeutung.
wenn wir es so weit fassen, ist es tatsächlich fast unmöglich, einen nicht politischen krimi zu schreiben…..
mit den begriffen allein kommen wir also nicht so wirklich weiter…
Ich persönlich würde mir aber gar nicht die Frage stellen, ob man einen unpolitischen Krimi schreiben kann, klar ist jeder Krimi irgendwo politisch, da er in der realen Welt spielt und bei uns ja eben auch immer ein wenig Politik reinspielt. Ich würde eben nur die Grenze irgendwo ziehen, denn wenn der Autor nicht den Schwerpunkt drauf legt und es nicht bewusst in den Fokus nimmt, so ist es eben nur parrallel da.
Genau das ist der springende Punkt, liebe Anna. Braucht es das Engagement des Autors, der Autorin oder ist alles politisch? Genügt das Beschreiben von „Welt“ – und kann man das überhaupt?