Das Buch und ich

(Die Diskussion um das Wesen und die Wirkung politischer Krimis geht weiter. Und zwar, was nahe liegt, unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit des Lesens überhaupt. Else Laudan beschreibt, warum sie liest und was ein Roman haben muss, um keine Zeitverschwendung zu sein. Persönlich – und natürlich politisch…)

Ein ganz wichtiger Punkt, über den wir noch nicht viel gesagt haben, ist die Rezeption, also wie ein Buch bei mir wirkt, nachhallt, in mir arbeitet.

Als Vielleserin habe ich an jeden guten Roman unbedingt die Forderung, dass er mich nicht unbeeindruckt lassen darf. Ich will überrascht, mitgerissen, gepackt werden, ich möchte mitfiebern, aber auch staunen. Für Science-Fiction und phantastische Literatur gibt es den Begriff des „Sense of Wonder“, das finde ich ein interessantes Kriterium. Es bedeutet, dass beim Lesen neue Welten, Perspektiven, Aspekte den Geist anregen, sodass man ins Staunen gerät. Für mich sollte das jede gute Erzählung leisten, ob ich nun Jules Verne und Stanislav Lem oder Hesse, Steinbeck, Nabokov lese, Irving oder van de Wetering: Ich will beim Lesen nicht Zeit rumkriegen, sondern mich bereichern, meinen Horizont um irgendwas erweitern (sei es nun durch die Form oder durch Inhalte des Geschriebenen). Und zwar nicht wie beim Sachbuch durch meinen Eigeneinsatz mühsamen Erschließens und Mitdenkens, sondern (wichtig:) mühelos, genießend. Das verlange ich von fiktionaler Literatur, dazu ist sie für mich da. Deshalb schmökere ich so gern, und deshalb glaube ich auch wirklich, dass Romanlesen durchaus schlauer macht. Es ist ein ziemlich tiefgehender Akt der Kommunikation: Jemand erzählt etwas, und ich nehme es in mich auf, verarbeite es, lasse mich davon beeindrucken und sogar verändern. Denn nach einem wirklich guten Buch bin ich nicht mehr genau dieselbe, die ich vorher war. Ja, genau das will ich von guter Lektüre: Sie soll mich bewegen.

Für einen politischen Kriminalroman kann ich ausgehend von dieser Erwartung noch etwas Konkreteres definieren: Politische Krimis zeigen mir Aspekte der Wirklichkeit und erzählen von Gesellschaft – von der, in der ich lebe, oder einer, in der ich nicht selbst unterwegs bin. Sie eröffnen mir oder verdeutlichen mir Lebensweisen, Bedingungen, Zusammenhänge aus der realen Welt. Wenn es gute politische Krimis sind, füllen sie Themen so mit Leben, dass ich das Erzählte als „wahr“ empfinde, als zutiefst glaubhaft und plausibel, sodass es sich als Mitdenkenswertes, als eine Art Wissen, wie das Leben unter bestimmten Umständen ist, in meine Assoziationswelt einordnen lässt.

Beispiel. Wie dpr richtig schrieb, wissen wir sowieso, dass Wirtschaftsbosse menschenverachtend und Politiker korrupt sind. Doch beim Lesen von Dominique Manotti (Letzte Schicht, Roter Glamour) erschließt sich mir, wie so ein Typ das vor sich selbst rechtfertigt. Ich kann förmlich miterleben, was für Folgen welche administrativen Winkelzüge und mafiösen Mauscheleien auf gelebten Alltag haben. Das hat eine Wucht, die sich stark vom allgemeinen „sowieso wissen“ unterscheidet.

Bei Manotti kommt noch zweierlei hinzu: Sie schreibt über wahre Begebenheiten, und sie schreibt unglaublich knapp und klar, was einen gewaltigen Sog erzeugt. Nach der Lektüre ist Zeitunglesen nicht mehr dasselbe für mich: Ich sehe die vormals so abstrakten Parteien tagespolitischer und neuzeithistorischer Verwicklungen jetzt vor mir, wie sie mit jovialer Miene Leben auslöschen oder sich an die Kandare nehmen, um etwas voranzutreiben – ich kann sogar erkennen, worin ich ihnen gleiche, welche ähnlichen Impulse mich treiben, wenn ich in meinem kleinen Alltagskosmos Entscheidungen treffe. Manotti holt mir die Welt näher heran – und bei ihren Themen will das einiges heißen, denn Wirtschafts- und Staatsaffären sind sonst nicht der Stoff, aus dem mein Alltag besteht.

Weitere Beispiele. Don Winslow stellt mir in Tage der Toten mehrere Protagonisten des mexikanischen Drogenkriegs vor – und selbiger ist danach nicht länger ein abstraktes, fernes und unbegreifbares Debakel, sondern ein fast schon überblickbares Interessengewirr. Deon Meyer erschafft in Das Herz des Jägers einen Helden, dessen Entwurzelung mir eine Ahnung von südafrikanischer Identität vermittelt, und liefert reichlich Hintergrund mit – gepackt im Fluss der Story kriege ich nebenbei erzählt, wie die Verhältnisse im „neuen“ Südafrika sind.

Das gilt genauso für vertrauteres Terrain. Nehmen wir Berlin, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, aber die ich 1988 verließ. Keine Dokumentation kann mir die Folgen der Wende in Westberlin so sinnlich und komplex nahebringen, wie Pieke Biermann das z.B. in Herzrasen schafft: Ganz dicht am Polizeialltag erlebe ich, was für ein Eiertanz Kriminalitätsbekämpfung in einer Stadt wird, in der die Nachwehen von 40 Jahre Ideologie und Herrschaft aufeinanderprallen, während alle nur denkbaren Kriegsgewinnlermentalitäten das diffuse Terrain zu ihren Gunsten nutzen. (Wohlgemerkt, das steht da nicht so, sondern erzählt wird eine packende Kriminalgeschichte mit viel Atmosphäre und lauter lebendigen, widersprüchlichen Figuren, die man ins Herz schließt oder inbrünstig verabscheut.) Zum Sommer 1989 und auf die östliche Seite der Mauer komme ich mit Dagmar Scharsichs Die gefrorene Charlotte, und Der grüne Chinese führt mich gar in der Geschichte zurück bis 1909, wo ich Szenarien, politische Verstrickungen und Personen des Kaiserreichs kennenlerne, indem ich einer leidenschaftlichen Erzählerin durch eine spannende, parallel im Heute verankerte Kriminalgeschichte folge.

Mit Anne Goldmann blicke ich ins Wiener Vorstadtleben und tief in die Köpfe von ein paar ganz normalen Mietshausbewohnern: In Das Leben ist schmutzig (literarisch überraschend und erhellend) findet die Autorin eine ganz eigene Erzählweise und offenbart einiges, was mir so noch nie im Krimi begegnet, ja nicht einmal durch den Kopf gegangen ist. Das hat sie übrigens mit der Französin Fred Vargas gemeinsam: Deren skurrile, hochsensible Figuren regen mich stets dazu an, Menschen mit all ihren Macken, Hilflosigkeiten, bizarren Gewohnheiten inniger, liebevoller zu betrachten, ohne dafür Beschönigung zu brauchen. (Für einen solchen Blick auf Menschen nehme ich sogar einen Serienmörderplot in Kauf, wenn es denn sein muss.)

Das alles sind starke politische Krimis, finde ich, denn sie erzählen davon und wecken Interesse daran, wie Menschen unter welchen Bedingungen handeln, wie „Politik“ sich im Alltag auswirkt, wie Einzelne in den Verhältnissen stecken, wie eine Gegenwart zur Historie wird.

Die Beispiele öffnen dieses Feld nicht zufällig ins Geographische und Historische. Sind politische Krimis also gewissermaßen – Bildungskrimis? In der Tat, ja – aber es muss schon auch ein kritisches Anliegen darin stecken, meine ich, oder vielleicht besser: ein aufklärerisches Anliegen, eine Einladung dazu, selbst zu urteilen, selbst zu denken. Unsere begrenzte Alltagssicht auf die Welt zu erweitern, zu hinterfragen.

Allerdings: Wenn Autor oder Autorin mit erhobenem Zeigefinger schreiben, lege ich den Krimi sofort weg. Alle wirklich guten Autoren politischer Krimis verkneifen sich das Deuten, das Moralisieren. Sie beschränken sich auf das Erzählen von Geschichten, die Interesse wecken oder für Themen sensibilisieren, lassen das Geschilderte für sich sprechen und überlassen das Fazit der Leserschaft – auch wenn ihre fiktiven Figuren zuweilen heftig urteilen. So wie Christine Lehmanns Lisa Nerz-Figur (9 Krimis bei Ariadne) gern provoziert und vorschnell urteilt, weil sie die gleichen Gemeinplätze im Kopf hat wie viele von uns: Sie ist eben keine platte, politisch korrekte Heldin, sondern eine Art Gestalt gewordene, unartige innere Stimme, die frech ausposaunt, was ihr in den Sinn kommt. Damit ist sie immer sehr nah an mir dran, ohne jemals im Mindesten wie ich zu sein – auch das kann gute Literatur leisten.

Ich halte (für mich) fest: Gute politische Kriminalromane bewegen mich, dehnen meinen Horizont. Sie wecken mein Interesse an Lebensverhältnissen, regen an, das Gewohnte in Frage zu stellen. Sie erzählen mithilfe genretypischer Spannung von Menschen in Gesellschaft (kritisch, ohne zu moralisieren) und erweitern meinen Blick auf die Welt.

Else Laudan

5 Gedanken zu „Das Buch und ich“

  1. Ihre schöne Beschreibung zeigt mir, was ein guter Roman sein könnte. Wobei ich persönlich nicht zwingend Überraschendes suche, wohl aber Bewegendes. Die Rückverwandlung des Gewohnten ins Besondere durch gute Schilderung genügt da schon.
    Heikel finde ich die Vorstellung der Mühelosigkeit. Bei mir ist es umgekehrt. Texte, die sich mühelos und „spannend“ weglesen, hinterlassen am wenigsten. Aufregender sind die Sachen, die einen gewissen Anlauf bedürfen, ein Hineinklettern, bis irgendwann tatsächlich der mühelose Höhenrausch einsetzt. Wenn das Mühelose aber ein Merkmal des Krimis sein soll, sind viele Fans des Genres wohl einverstanden, da sie Bücher anscheinend gern atemlos verschlingen. Ansonsten könnte man nach meiner Meinung statt „politischer Roman“ auch „Beziehungsroman“-, „Sozioroman“, „psychologischer Roman“ oder sonstwas einsetzen und ebenfalls zu den geschilderten Voraussetzungen für Qualität kommen. Denn hauptsächlich scheint mir Ihr Text, Frau Laudan, keine formale Definition zu sein, sondern eine Qualitätsproklamation (ein formales Kriterium wäre vielleicht.: „Die Auflösung eines Kaviarkrimis muss mit Kaviar zu tun haben.“ Plump, aber ein echtes Kriterium.)
    Die Proklamation passt auf alles, nur die Themen sind verschieden. So könnte ich in Ihrem Text einfach den Begriff „politischer Roman“ gegen einen anderen austauschen. Beispiel:

    >>>Für (Romane über die Liebe) kann ich ausgehend von dieser Erwartung noch etwas Konkreteres definieren: (Diese Romane) zeigen mir Aspekte der Wirklichkeit und erzählen von Gesellschaft – von der, in der ich lebe, oder einer, in der ich nicht selbst unterwegs bin. Sie eröffnen mir oder verdeutlichen mir Lebensweisen, Bedingungen, Zusammenhänge aus der realen Welt. Wenn es gute (Romane über die Liebe ) sind, füllen sie Themen so mit Leben, dass ich das Erzählte als „wahr“ empfinde, als zutiefst glaubhaft und plausibel, sodass es sich als Mitdenkenswertes, als eine Art Wissen, wie das Leben unter bestimmten Umständen ist, in meine Assoziationswelt einordnen lässt.///

    Ich habe mich gescheut, „Liebesroman“ einzusetzen, so wie ich den Begriff „politischer Roman“ sehr vorsichtig verwenden würde. „Eine Liebe von Swann“ ist ein Roman über die Liebe, aber kein Liebesroman. Ebenso würde ich Romane über Politik von „politischen Romanen“ unterscheiden.

  2. Hmmm … also das stimmt natürlich – andererseits: Was ich von politischen Krimis verlange, ist ja die Einladung/Ermutigung, sich für Gesellschaft und Politik zu interessieren. Und in diesem Sinn kann man wohl auch von Romanen über die Liebe erwarten, dass sie dazu einladen/ermutigen, sich für Liebe zu interessieren. Oder? Ich finde, stehen bleibt trotzdem das Kriterium, dass ich „genießend“ (um nicht mühelos zu sagen, es aber doch gegen ein Sachbuch abzugrenzen) politisch Relevantes über die Welt erfahre.

  3. Fehlermeldungen habe ich auch immer. Der Kommentar wird trotzdem gespeichert. Meinen letzten hätte ich mir schenken können, weil auch nur eine Wiederholung. Der Wiederholungszwang liegt vielleicht an diesem provozierenden Begriff ,politisch‘. Für mich viel zu abstrakt für sowas wie ,Roman‘. Von Ausnahmen abgesehen, wie z. B. den Romanen Sartes, bei denen ich das Gefühl habe, sie wollten mir etwas verkaufen (ob die Ware politisch ist oder nicht, ist egal.) Ansonsten ist natürlich alles, was Sie über die Romane schreiben, sehr nachvollziehbar und ich fühle mich sogar bestätigt. Zitat „ich kann sogar erkennen, worin ich ihnen gleiche, welche ähnlichen Impulse mich treiben, wenn ich in meinem kleinen Alltagskosmos Entscheidungen treffe.“ Das ist sooo politisch, dass der Begriff zu klein wird.

  4. Im heutigen Perlentaucher-Medienticker steht ein Zitat, das zum Thema „politische Krimis“ passt (und zu WtD-Glossen und der Kultur des hinternet-Blogs), daher will ich es euch nicht vorenthalten.
    Perlentaucher Zitat des Tages:
    „Provozieren heißt, die Leute denken zu lassen.“ (John Le Carre)
    mit heiterem Gruß ringsrum, Else

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