Zeit für die nächsten Zettel. Affen, die Kinderschokolade lutschen, Fritz Lang grüßt aus der Ferne und Titeleindeutscher, Polizisten, Hacker brauchen Therapien. Na dann. Wie immer: Zettel in Echtzeit gibts bei Facebook.
Zettel 51: Gäbe es den Krimi nicht, JETZT würde man ihn erfinden. Zeiten lächerlichster Welterlöserposen (…werden wir das Problem lösen…) und panischer Hilflosigkeit („die Märkte“), das ist 1850, nur noch schlimmer. Erste Bankenbashing-Thriller. Wolfram Fleischhauers „Torso“ für Freunde gepflegter Leichenschändung und einfacher Lösungen der Weltprobleme, ein – wie sagt man heute? – Gesamtpaket für nette Abende auf der Titanic. Ein alter Film taucht auf. Dazu mehr auf dem nächsten Zettel.
Zettel 52: M – Eine Gesellschaft sucht einen Schuldigen. Sind wir nicht wieder einmal in einem Fritz-Lang-Film? Ein Unhold, der sich unter dem Decknamen „Die Märkte“ oder wahlweise „Die Politik“ durch die Gesellschaft schleicht und unschuldige kleine Kinder namens Euro in den nächsten Busch zieht. Schon bildet sich die Koalition der Anständigen aus Unterwelt und Bürgertum, Industrie und Prekariat, auf der Suche nach der Person, der man ein großes M wie Mörder auf den Rücken kreiden kann. Alles wie in einem schlechten Whodunit. Alles wie immer. Die Guten sind wir.
Zettel 53: Die Qualen und Wonnen des Eröffnungskapitels. Der erste Mord und der letzte Mord. Die Kriminalliteratur beginnt mit einem Affen und endet äffisch. Aus dem Mordsspektakel wird das Alltägliche, der wahre Thriller schildert was passiert, wenn nichts passiert.
Zettel 54: Neuer Trend: psychotische Polizisten. Der Crazy-Bull-Hype? Bei Haderer („Der bessere Mensch“) steht der Major unter Psychopharmaka, bei Fleischhauer („Torso“) war der Kommissar immerhin mal in Therapie. Was sagt uns das? Zwischen Burnout und Medikamentenmissbrauch, Alkoholismus und psychobedingter Frühverrentung surft auch der Krimi auf der Welle der Talkshowthemen. „Inspector Crazy jagt Dr. Ouzo“, Griechendissing mit Bankendressing auf Dachschadenbasis.
Zettel 55: Der Computerhacker ist eine der prägenden Figuren des Krimis der letzten Jahre. Asoziales Wrack als deus ex machina, Nothelfer für Autoren, die sich aus den Sackgassen der Handlung manövrieren müssen. Überraschender Bezug zum Poe’schen Orang-Utan: das Unmenschliche als das Übermenschliche. Vorsicht! Wer zuviel über Computer weiß, schwebt in der Gefahr, an Lachkrämpfen zu verenden. Hey, wir loggen uns mal kurz in fremde Systeme ein!
Hass-Zettel: Wieder über einen dieser unendlich dummen eingedeutschten Krimititel gestolpert: Lisa Jackson, SANFT WILL ICH DICH TÖTEN. Eine Aufforderung zu nicht ganz so sanften Backpfeifen für die Titulateure. Einsame Spitzenreiterin in diesem Spiel absoluter Leserverachtung: Elizabeth George. Aus DECEPTION ON HIS MIND wird DENN SIE BETRÜGT MAN NICHT, aus CARELESS IN RED ein sicheres DOCH DIE SÜNDE IST SCHARLACHROT usw. Was geht in solchen Gehirnen vor? Überhaupt etwas? Ist permanentes Hochtonvögeln der Sprache ein verfeinerter Geschlechtstrieb von durch frühkindlichen Religionsunterricht debilisierten Hirnhälften? Oder steckt einfach nur Leserverachtung dahinter? Wenn ja: Warum wehren sich die Leser nicht dagegen?
Zettel 56: Krimi ist eine Therapieform, Überich vs. Es, Vor-Freud-ig. Der Pyrrhussieg über das Tier in uns. Nur so ist das geradezu obszöne Verhältnis zum Mord zu erklären, dieses Delektieren an ausgeweideten Körpern, die Nonchalance, mit der wir bei „Krimidinern“ den Tod eines Menschen genießen, während wir das Trüffelsüppchen auslöffeln. Jeder Krimi wird zu Pyms Reise in die Antarktis unserer Ängste.
Zettel 57: Der Übergang von Verbrechensliteratur (Shakespeare, Schiller und Kumpane) zur Kriminalliteratur ist der von Moral zu Logik, von der dinglichen Handarbeit zur abstrakten Industrialisierung. Entfremdung. Schon Dupin löst seine Fälle mit Vorliebe aus der Distanz als Teil einer medialen Fertigungskette. Er liest Zeitung.
Off-Topic-Zettel: Für manche Kritiker sind Krimis wie Kinderschokolade: Lutschen, bis das Weiße kommt. Lesen als süßester Blowjob mit der längsten Praline der Welt.
Zettel 58: Die großen Erfindungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Fotografie, Eisenbahn. Werkzeuge zur Beherrschung einer Welt, die, von diesen Werkzeugen traktiert, ihre Unbeherrschbarkeit offenbart.
Zettel 59: Deutschland wird psychotisch, die üblichen Neurosen genügen nicht mehr. Burnout, würdiger Nachfolger des Blackouts in Zeiten des ökonomischen Sellouts. Wie hat sich die Kriminalliteratur in den 170 Jahren zwischen Poe und Mankell entwickelt? Hin zur offenen Psychose. Aus dem logisch ratternden Maschinengehirn springen plötzlich bipolar gestörte Kommissare, Sedidativa-Junkies. Kein Happy End mehr, Autoren, die an den guten Enden der Krimis verzweifeln. Alles hat ein Ende, nur der Krimi hat zwei(fel).
Zettel 60: „…detective stories have nothing to do with works of art. It is possible, however, that an analysis of the detective story, i.e., of the kind of detective story I enjoy, may throw light, not only on its magical function, but also, by contrast, on the function of art.“ (W.H. Auden)