Heute mit Dickens und Higgins, einigen notorischen Arschgesichtern und Arschgedanken, der propperen Psycho-Anneliese und anderen organisierten Verbrechen. Und einem Jubiläumszettel, auf den ihr schreiben könnt, was ihr wollt. Vielleicht verratet ihr es mir? Die Kommentarfunktion ist immer noch aktiv, ich muss nur freischalten, wegen Spam, sorry.
Zettel 91: Krimi und Psychoanalyse: Lesen wir Krimis, weil sie uns das „Ur-Verbrechen“ rituell wiederholen lassen, die „primal scene“ der Geburt, die Verstoßung aus dem Mutterleib? Dazu gibt es tatsächlich wissenschaftliche Arbeiten und ich will das gar nicht ins Lächerliche ziehen, irgendwo her muss ja die menschliche Verkorkstheit kommen. Halte es in puncto Psychoanalyse aber eher mit Vladimir Nabokov als mit Arno Schmidt. Obwohl dessen Theorie von Poes „Ur-Erlebnis“ im Zusammenhang mit „Pym“…
Antiverschwörungstheorienzettel: Gibt es in der deutschen Krimikritik „mafiose Strukturen“? Klare Antwort: NEIN! Eine solche Behauptung wäre ein Affront gegen die Professionalität des organisierten Verbrechens.
Lesezettel: Sehr viel Freude an Higgins gehabt. Sehr viel Freude auch an Martin Comparts „Lucifer Connection“, obwohl ganz anders als Higgins. Eben! Der Krimi ist mitnichten öde Monokultur, auch wenn das der erste Augenschein Glauben machen will. Graben lohnt sich, dort, wohin die meisten Kritiker nicht kommen, nicht kommen wollen. Halt nicht nur dort, wo sie ihre Stöckchen in den Hype bohren.
Zettel 92: Die Zukunft des Krimis ist seine Vergangenheit. Punkt.
Zettel 93: Conan Doyle und seine Vorliebe für das Okkulte. Ähnliches bei Bram „Dracula“ Stoker. Frage, wie Moderne und Okkultismus zusammenpassen. Bindeglied: die Logik. Unerklärliches erklären, die Angst vor den Geistern weg-ratio-nalisieren. Wieder bei Poe landen, ohne den im 19. Jahrhundert gar nichts läuft. Kein Wunder, er hat’s ja erfunden.
Zettel 94: Die zeitgenössische Kriminalliteratur ist ein Fuhrpark voller perfekter Bedürfnisvehikel. Es gibt ein zumeist stillschweigendes Übereinkommen von Autoren und Lesern über den affirmativen Charakter von Krimis, eine Ausdifferenzierung von Zielgruppen, was nicht nur die oft beschimpften Regioschmonzetten, Tier- und Fresskrimis betrifft, sondern auch die sogenannte „bessere“ Kriminalliteratur wie den Noir oder den „politischen“ Krimi. Das ist funktionierende Marktwirtschaft.
Psychozettel: Es gibt Gelegenheiten, bei denen man die ganze globale Misere im lächerlich Kleinen vorgesetzt bekommt. Und erkennt: Die Leute lassen sich offenen Sinnes verarschen, auch dann, wenn sie den Betrug längst erkannt haben. Düstere Gedanken. Alles hinwerfen, schon aus gedankenhygienischen Gründen, einfach ausklinken. Was ich hier tue, interessiert eh niemanden, das ist, wenn man den Larmoyanzanteil abzieht, eine nüchterne Erkenntnis. „Die da draußen“ fallen auf die dreistesten Plumpereien herein, lassen sich wie immer mit dem ekligsten Köder im Maul ans Ufer ziehen und in die Pfanne hauen. Eine Nacht drüber geschlafen, nur unwesentlich besser.
Zettel 95: Man könnte die aktuelle Diskussion um das Quo Vadis der deutschen Kriminalliteratur komplett mit Beispielen aus den Jahren 1870 bis 1930 illustrieren. Der Krimi als Gesellschafsroman, als politischer Roman, als Seismograph psychischer Kollektivbefindlichkeit, zwischen Kunst und Kommerz… Ist also die Vergangenheit die wahre Avantgarde zur Beschämung des Gegenwärtigen? Oder die Gegenwart hoffnungslos antiquiert?
Zettel 96: Ein Krimi, den man nicht als Nichtkrimi lesen kann, ist kein Krimi.
Erkenntniszettel: Immer wieder lustig, wenn sich die kecken Belobhudler des Ewiggleichen, die Bremsklötze der Entwicklung, die hinter dem Stillstand hinterher Hechelnden zu Fortschrittsfurien aufschwingen. So viel Blamage ist selten, der liebe Gott pupst nass und sprenkelt seiner missratenen Schöpfung hohle Häupter mit geistigem Dünnpfiff.
Zettel 97: Zu behaupten, mit Hammett / Chandler habe „die Wirklichkeit“ Einzug in die Kriminalliteratur gehalten, ist in etwa so zutreffend wie die Behauptung, mit der Erfindung des Sahnebonbons sei die Milch als Lebensmittel entdeckt worden.
Zettel 98: Blättere gerade in Arno Schmidts „Der Triton mit dem Sonnenschirm“, Dickens-Nachtprogramm. „Achduliebezeit! – ‚Realistische Verbrecherwelten‘ finden Sie nicht einmal beim – in dieser Beziehung zu Recht berühmteren – Dostojewski : selbst der nur mittelmäßig erfahrene Polizeibeamte in irgendeinem ‚Sankt Pauli‘ oder ‚Harlem‘ weiß, und erfährt täglich, Komplizierteres und Übelriechenderes bezüglich ‚Schuld & Sühne‘ ! / Nein : am TWIST ist das Merkenswerteste, daß er in späteren-klügeren Jahren die Gestalt des Verbrecher-Juden Fagin bereute (…).“ Und, schwupps, sind wir wieder im Aktuellen und bei gewissen neuen „Eindeutschungen“ des OLIVER TWIST. Überhaupt „aktuell“: Dickens lesen, BLEAKHOUSE lesen.
Befindlichkeitszettel: Mein Wort der Woche: ausklinken. Es gibt Tage, da wird einem alles so elend-trübsinnig klar, die Geschichte mit den allerdümmsten Kälbern und ihrer Wahl des Schlachters, dieses halbherzig empörte Aufmucken und das dem automatisch folgende ängstliche Kuschen, dieses ganze biederlich-widerliche „Protestieren“, das sich, unter anderem, in der Art und Weise spiegelt, wie sie ihre Welten bauen. Scheißehaufen mit gepflegten Vorgärten. Aber okay: Die Woche ist vorbei.
Zettel 99: Krimi als Reaktion auf allgemeine Orientierungslosigkeit, das Wissen um das Ende einer alten Ordnung, in banger Erwartung einer neuen. Prognose: Das Tier erhält eine aktualisierte greifbare Gestalt und wird, wie gehabt, pausenlos in seine Schranken verwiesen und „bestraft“. Wir blicken neuen schönen Krimiwelten entgegen, die doch nur Aufgüsse der alten sind.
Zettel 100: Bleibt leer. Viel Platz für eigene Notizen.