Von W.H. Auden bis zu geworfenen Tampons, über flüchtende Leserschaft und Hamster bei Facebook: Wieder einmal steckt in diesem Zettelkonvolut alles, was wir so am Krimi lieben. Live dabei sein könnt ihr bei Facebook.
Zettel 81: W.H. Auden 1948 über Krimis: „the story must conform to certain formulas (I find it very difficult, for example, to read one that is not set in rural England“ Hätte Auden, der stilbildende Lyriker, seine Kunst mit ähnlicher Konsequenz kaserniert, er wäre zeitlebens nicht über den Endreim hinausgekommen. Aber: „detective stories have nothing to do with works of art“. Interessant aber seine Anmerkungen zu den Lesern.
Zettel 82: Der Krimi als eskapistische Literatur. Was heißt das eigentlich? Vor etwas in etwas flüchten. Gegenwelt? Parallelwelt? Arno Schmidts „Längeres Gedankenspiel“ und seine Ausformungen im Hinterkopf behalten. Wichtigere Frage: WARUM flüchtet man, wenn überhaupt? Wenn ja: Was machen eigentlich Leser von Goethe, Grass und Charlotte Roche? Schön verkanteter Ansatz bei Auden.
Gegenwartszettel: Heißer Anwärter auf den Dummdeutsch-Titel: „MEHRWERT“. Wenn jemand bei der Krimilektüre auf einen MEHRWERT aus ist, sollte ihm das Wort angesichts der aktuellen Situation im Halse stecken bleiben. Das ist Krimikapitalismus, Verzinsungswahn, die Scheiße in den Köpfen. Aparte Gedanken möglich zum Missverhältnis Kapital und Arbeit, zum Lesen zu doof, der Intellekt solle sich bitteschön selbstständig vermehren, die Kohle auf dem Konto tuts ja auch.
Zettel 83: Die Zeit für ein Krimischisma rückt immer näher. Trennung in Krimis, die komplexe Dinge auf etwas Überschaubares zusammenfalten und Krimis, die das uns als überschaubar Vermittelte in ihre Komplexität auffalten. Zwei Pyramiden. Die eine reckt wie gehabt ihre Spitze in den Himmel, die andere rammt ihre Spitze in den Boden und steht kopf.
Erkenntniszettel: Alle Massenmedien, inklusive Internet, sofort abschaffen. Lieber dumm bleiben als verdummt werden.
Zettel 84: George V. Higgins: Die Freunde von Eddie Coyle. Zwei, manchmal auch drei Personen treffen sich und reden über ihre Arbeit. Sie arbeiten nicht im Büro, sondern im Verbrechergewerbe. Großartiges Buch, natürlich nur noch antiquarisch erhältlich. Besser als 99 Prozent etc…
Tabuzettel: So etwas würde ich NIE behaupten!: Sich langsam verfestigender Eindruck, dass EINIGE Damen über Bücher (auch Krimis) schreiben, weil ihnen das die Hormonspritzen im Klimakterium erspart. (Sofort Liste der Ausnahmen anfertigen, bevor ich hier mit überflüssig gewordenen Tampons gesteinigt werde. Aber noch einmal: So etwas würde ich NIE…)
Zettel 85: Die Frage „Was ist Krimi?“ erhält interessante Antworten nur dann, wenn man sich ihr von der Seite der Leserschaft nähert. Deren Bedürfnisse entscheiden über die Ausformung des Genres. Die gute alte Rezeptionsästhetik also. Zentraler Begriff: Eskapismus. Merkwürdig auch hier, dass damit sofort „Trivialliteratur“ assoziiert wird, als eine Art Scheide-Charakteristikum von „guter“ und „schlechter“ Literatur. Wobei diese Trennung ja schon selbst eskapistisch ist, die Flucht ins Überschaubare, wenn an jeder literarischen Klamotte bereits das Preisschildchen baumelt mitsamt Wasch- und Pflegeanleitung.
Zettel 86: Ansatz für ein paar längere Gedanken zu „Krimi und Eskapismus“: Das Leben ist eine Geschichte als Interpretation von Nichtgeschichten. Eine Geschichte ist immer Flucht in die Sinnhaftigkeit. Sie ist gut oder schlecht, weil sie Sinn ergibt oder nicht. Schon weil sie Sinn ergibt, ist sie eskapistisch.
Zettel 87: Zehn Kriterien für einen genießbaren Kriminalroman. Die ersten fünf.
1. Ich möchte am Ende weniger wissen als am Anfang.
2. Bei gewissen Sätzen klinke ich mich sofort aus. Nenne jetzt aber keinen, um niemanden vorzuwarnen.
3. Wer in vier Sätzen hintereinander mit „hatte“ oder „war“ arbeitet, sollte Journalist werden. Ausnahme: Es ist stilistisch so angelegt und ergibt einen Sinn. Gilt auch für „kommen“, „gehen“ etc.
4. Bitte keine „glaubwürdigen Charaktere“, die nach drei Seiten wie ein offenes Buch sind. Kenne ich schon genug im wirklichen Leben.
5. Kein Text, der von hinten nach vorne geschrieben wird. Ich schreibe auch nicht von rechts nach links.
Zettel 88: Zehn Kriterien für einen genießbaren Kriminalroman. Die zweiten fünf.
6. Keine Traumschilderungen! Ich hasse das!
7. Wenn Sex, dann bitte richtig und nicht wie in „Eltern“ oder „Bravo“.
8. Ich erwarte keine wasserdichte Logik, ich erwarte löchrige Ideologien.
9. Kein Lachen, das einem „im Halse stecken bleibt“. Das ist total iiiiih.
10. Werft endlich die „Wie schreibt man einen geilen Krimi“-Schwarten weg. Entfernt bei der Gelegenheit die Bretter vor euren Köpfen.
Zettel 89: Auden erklärt den Unterschied zwischen einem (literarischen) Kunstwerk und einer Detektivgeschichte am Beispiel von Kafkas „Der Prozeß“. In einer Detektivgeschichte ist bekannt, dass ein Verbrechen geschehen ist, nicht jedoch, wem man dafür die Schuld zuschieben soll (jedenfalls nicht so lange, bis das Verbrechen aufgeklärt ist, versteht sich). Bei Kafka ist die Schuldfrage geklärt, kann aber keinem Verbrechen zugeordnet werden. K.s Ziel ist es also nicht, seine Unschuld zu beweisen (er ist nämlich zweifelsohne schuldig), sondern das konkrete Verbrechen zu entdecken, mit dem er sich schuldig gemacht hat. Und jetzt kommt der spannendste Satz in Audens Essay: “ K, the hero, is, in fact, a portrait of the kind of person who reads detective stories for escape“
Zettel 90: Wenn ich Kafkas „Die Verwandlung“ als Bindeglied einbaue, kann ich Auden die Hand reichen.
Rezeptionszettel: Diese Seite hat bei FB 27 Fans. Ich muss mir das Foto eines Gold- oder Feldhamsters besorgen, ihm eine Fanseite einrichten. „Wetten, dass dieser Hamster mehr Fans bekommt als Dieter Bohlen?“ Und ICH wette dann, dass diese Seite mindestens 100x mehr „Gefällt mir“’s erntet als „Was ist Krimi?“ Wundert mich das? Nein.