Historische Krimis sind Mogelpackungen. Jeder Krimi ist historisch, hinterlässt er doch den Nachgeborenen etwas über die Verhältnisse, die Denkweisen seiner Entstehungszeit. Was allgemein als historisch etikettiert wird, ist hingegen historisierend, ein Nachbau von Vergangenem, der weder seine Abhängigkeit von der Zeit seiner Entstehung noch seine zwangsläufige didaktische Absicht leugnen kann. Uns Lesern soll etwas vermittelt werden, wir sollen etwas lernen, bestenfalls bietet man uns Infotainment, schlechtestenfalls das Dröge einer faktenvollen und blutleeren Geschichtsstunde im zeitlos morschen Gerüst eines 08/15-Krimis.
Zwei gelungene Beispiele historisierender / historischer Kriminalliteratur seien hier kurz vorgestellt. Zunächst Patrick Pécherots „Boulevard der Irren“, dritter Band eines Projekts, das eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt war – und wider Erwarten doch prächtig gelungen ist. Denn Pécherot hat sich nicht weniger vorgenommen als Léo Malets legendären Privatdetektiv Nestor Burma durch neue literarische Abenteuer zu schicken. In „Boulevard der Irren“ finden wir ihn im Paris des Jahres 1940, einer Stadt in Aufruhr, denn die deutschen Invasoren stehen vor der Metropole. Alles löst sich auf, alles bricht zusammen – und Burma, der einen suizidgefährdeten Psychiater im Auge behalten soll, kann dessen Ableben – ob freiwillig oder unfreiwillig ist natürlich die große Frage – nicht verhindern. Bei seinen Recherchen gerät Burma in Chaos einer sich pulverisierenden Gesellschaft, in eine Verschwörung zudem, bei der Geld- und Machtgier, abstruse Theorien von Rassehygiene und schauriger Alltag in „Irrenhäusern“ ebenso miteinander verbunden sind wie Widerstand und Kollaboration mit dem Feind.
Eine Technik hat Pécherot vor allem von Malet übernommen: Die Geschichte lebt von geradezu unwahrscheinlichen Zufällen. Sie ist im besten Sinne Konstrukt und trifft so die literarische Intention Malets auf den Punkt. Der nämlich war geprägt von Anarchie und poetischer Sinneslust, ein Anhänger André Bretons und des Surrealismus. In diesem Konzept wird das Unwahrscheinliche zum Bauprinzip, um das Alltägliche abzubilden.
Genau das gelingt auch Pécherot. Er überhäuft uns nicht mit historischen Erklärungen (dazu gibt es ein ausführliches Glossar im Anhang), er lässt sein Personal einfach handeln und denken. Das ist bisweilen nicht nur turbulent, sondern auch irritierend, am Ende jedoch so ziemlich die bestmögliche Annäherung an das, was historische Romane vermitteln können: Wir verstehen dieses Handeln und Denken.
Szenenwechsel in das New York unserer Tage. Dort spielt Cynthia Webbs „Die Farbe der Leere“, ein Gegenwartsroman also, der doch in einigen Jahrzehnten ein historisch aufschlussreiches Dokument sein dürfte. Katherine McDonald arbeitet in Harlem, einem „sozialen Brennpunkt“ für eine Organisation, die wir uns in etwa wie unsere Jugendämter vorstellen können. Sie kümmert sich also um vernachlässigte, straffällig gewordene, misshandelte und missbrauchte Kinder und Jugendliche, ein Knochenjob natürlich. Als ein ehemaliger Schützling ihrer Behörde bestialisch ermordet wird und nicht der einzige bleibt, dem dies widerfährt, arbeitet Katherine mit Staatsanwalt und Polizei zusammen, um den Täter zu fassen.
Rein formal ist „Die Farbe der Leere“ ein Whodunit mit den üblichen Thrillerbeigaben. Interessant die Erzählperspektive, neben der Katherines lernen wir auch die der beiden ermittelnden PolizistInnen Russo und Malone kennen. Noch interessanter allerdings das Soziogramm, das Webb mit ihrem Roman gelingt. Es ist nicht einfach „ein Fall“, es sind genaue Beobachtungen aus einer völlig aus dem Lot geratenen Wirklichkeit, in der sich die gesellschaftlichen / politischen Großverhältnisse in den verqueren Biografien der Akteure spiegeln – und umgekehrt. Die vorgebliche Abgebrühtheit von Katherine und ihren Kolleginnen, der an Hilflosigkeit grenzende lakonische Ermittlungsstil der Beamten, die verzweifelten Don-Quichoterien der Jugendlichen in ihrem Kampf um Lebenschancen – das alles ergibt das Bild einer ratlosen Gesellschaft, die vielleicht noch nicht weiß, dass sie am Abgrund steht, es in Zukunft jedoch aus Romanen wie diesem erfahren kann.
Patrick Pécherot: Boulevard der Irren.
Nautilus 2011. 256 Seiten. 14,90 €
(Boulevard de Branques. 2005. Deutsch von Katja Meintel)
Cynthia Webb: Die Farbe der Leere.
Ariadne 2011. 250 Seiten. 12,90 €
(The Color of Emptiness. 2004. Deutsch von B. Szelinski und Else Laudan)