Reden wir über Kitsch. Was ist das? Kitsch ist die Nachahmung des Originellen, das Errichten potemkinscher Fassaden vielzimmriger Worthäuser, aber eben nur die Fassaden, ein Täuschungsmanöver für flüchtige Augen. Im Kitsch offenbart sich falsches, weil oberflächliches Lesen. Alles etwa, was heutzutage „romantisch“ daherkommt, hat Romantik nie wirklich verstanden, ahmt den Ton nach, trifft ihn aber nicht. Kitsch will mehr sein, Kitsch will Kunst sein, unbedingt, Kitsch strebt nach dem Höheren und löst sich doch nie von seinem traurigen Ausgangspunkt: dem Unvermögen zur originellen schöpferischen Leistung.
Kitsch zu erkennen, ist nicht immer leicht, denn entgegen der landläufigen Meinung steckt er nicht nur in „Lore“-Romanen und schwülstigen TV-Arztserien. Er verbirgt sich in Worthülsen, ist Modeschmuck, Talmi, er schwingt sich zu Gedanken auf, die einen in Ehrfurcht erstarren lassen, große Gedanken über die Menschen und die Welt und die Moral und überhaupt. Das beeindruckt, wenn man es beim ersten Blick und der wie mit Kanonen verschossenen Botschaft belässt. Und die Claqueure tun, was Claqueure nun mal tun: sie applaudieren. Bis irgendwann die Klatschhändchen erlahmen, weil die Zeit (nein, nicht die Wochenzeitung, die nicht) einen bösen Verdacht mit sich gebracht hat: Das ist alles Kitsch. Das ist das gute daran: Irgendwann entlarvt sich Kitsch von selbst, mal früher, mal später.
Wir hegen also die begründete Hoffnung, dass es auch einmal MatthiasWittekindts „Schneeschwestern“ erwischen wird. Der Inhalt des Buches kann lapidar in wenigen Sätzen zusammengefasst werden: Ein Mädchen wird ermordet. Und hätte die Polizei von Anfang an ihre Arbeit vernünftig getan, wäre der Fall nach 80 Seiten gelöst gewesen. Hätte sie zum Beispiel nach der Tatwaffe gesucht anstatt Polizistinnen „den Mond anschreien“, sie durch den Schnee stolpern und viele tiefgründelnde Flachheiten vom Stapel hauen zu lassen. Aber auch die potentiellen Täter sind nicht besser. Was sind sie eigentlich? Weiß man nicht so genau. Irgendwie Getriebene, die sich nicht im Griff haben oder ständig beim Pfarrer Dinge beichten wollen, die sie nicht getan haben. Und die Opfer? Jugendliche halt. Als potentiell dreidimensionale Wesen in der Handlung abgeladen und dort von der Sprachwalze des Autors kundig platitüdiert. Das Ganze spielt übrigens in Lothringen, unweit der deutschen Grenze, auch in Saarbrücken wird mal ermittelt.
Aber am schlimmsten sind die Polizisten. Der eine hat ein Problem mit seiner Freundin, der andere damit, keine zu haben. Eine Polizistin (die den Mond angeschrieen hat) findet zwar einen Freund, aber es ist irgendwie nicht der richtige. Ginge ja alles in Ordnung, würden die Leutchen nur ihren Job richtig machen und sich nicht ständig daran erinnern, dass sie sich gerade an etwas nicht erinnern, das aber natürlich höchst wichtig ist…
Nein, Korrektur: Am schlimmsten sind doch nicht die Polizisten, am schlimmsten ist die Sprache, denn die ist Kitsch pur. Wir erinnern uns: Kitsch ist die Nachahmung des Originellen etc. Also eine Sentenz wie diese etwa:
„Die Straße. Weiß. Sein BMW. Schwarz. Noch immer eine kleine Freude, der Anblick. Roland Colbert steigt ein, startet den Motor, schaltet das Licht ein. Blau. Die Tachobeleuchtung ist blau. Roland Colbert achtet nicht darauf. Es geht jetzt um Wichtigeres.“
Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht die Sprache an sich ist hier kitschig und der Rezensent ist auch nicht der letzte Ritter dudenkonformer vollständiger Sätze. Sprache ist überhaupt selten kitschig, viel mehr sind es die Absichten dahinter. Und die Absicht hinter diesen Sätzen lautet: Literatur. Weder dienen hier die Ein-/Zweiwortsätze dazu, einen bestimmten physischen (Eile) oder psychologischen ( sich vergewissern) Zustand zu unterstreichen. Noch wird hier ein Erzählduktus konsequent durchgehalten. Nein, es ist viel simpler: Jemand setzt sich in sein Auto und fährt weg. Es einfach hinschreiben? ZU einfach. Denn Wittekindt möchte Literatur herstellen, leider hat er vergessen, dass die nicht nur darin besteht, ein paar halbtiefe Gedanken (gerne auch mit Schopenhauer-Erwähnung) in einer Untiefe aus sprachlicher Pseudoartistik zu baden, um sie schön manieriert zum Trocknen aufzuhängen. Stimmt ja. „Die Straße. Weiß. Sein BMW. Schwarz“: Das klingt nicht nach Schulaufsatzdeutsch, das klingt nach „mehr“.
Dieses „Mehr“ treibt gelegentlich in aberwitzige Sphären, so wie der Wind den Schnee auf einer Wehe. „Es schneit keine dicken Flocken, sondern mitteldicke. Und sie fallen natürlich auch nicht von oben, sie bewegen sich schräg.“ Aha. Was schräg runterfällt, fällt nicht von oben? Good to know.
Nun denn. Kitsch ist, wenn die Sprache ein eitles Eigenleben führt, eine Königin ohne Land, ohne Bezug zum Inhalt. Was bleibt übrig? Ein reichlich überflüssiger und wirrer Krimi, der 350 Seiten benötigt, um nichts zu erzählen.
dpr
Matthias Wittekindt: Schneeschwestern.
Nautilus 2011. 349 Seiten. 18 €
Du sollst Dir doch das Neue Jahr nicht gleich mit Krimikitsch ruinieren!
Allet Jute – P.