Mit einiger Verzögerung, aber jetzt gebündelt: Nachrichten von Kitsch und Kunst, Märchen und Wirklichkeit, Kuckucksuhren und ausgeleierten Unterhosen. Kurz: Neues vom Krimi.
Zettel 121: Welche Textsorte kommt dem Krimi am nächsten? – Das Märchen! Die ursprüngliche Bedeutung des Märchens, sein tiefenpsychologischer Gehalt, der auch gesellschaftliche Zustände verarbeitet und verklausuliert hat, wurde wie der Krimikern im Laufe der Zeit auf kindliches Niveau verharmlost.
Zettel 122: Krimifreie Tage zwischen den Jahren geplant, natürlich nicht durchgehalten. Statt Jean Paul zu lesen in Leo Perutz geschmökert. Aber ist der „Krimi“? Das ist doch… phantastische Literatur! Und seit Sherlock Holmes wissen wir: nüchterne deduktive Logik ist alles; und seit den neuesten Herolden des „realitätshaltigen“ Krimis wissen wir zudem: Immer nüchtern die Weltschweinereien beschreiben, wenn schon phantastisch, dann bitte mit Humor, ein wenig Ani’sches Moralphilosophieren ist ok. Aber Perutz? Wieder einmal die alte Erkenntnis: Wer etwas über Logik erfahren will, muss Perutz lesen. Wer wissen will, wie man eine Geschichte dramaturgisch perfekt aufbaut: Perutz. Wen es interessiert, was aus Krimi werden könnte: Perutz. Wer herausmöchte aus dem von völlig phantasielosen, staubtrockenen Literaturbuchhaltern aufgegitterten Genre: Perutz. Also ans Werk.
Zettel 123: Im offiziösen Krimideutschland hängt seit geschätzten 100 Jahren eine Kuckucksuhr an der Wand. Nach Altvätersitte schleppt sie unter monotonem Ticktack ihre beiden Zeiger der Zeit nach. Mehrmals im Jahr öffnet sich das Loch im Gehäuse mit Getöse und ein Kuckuck – Wahrzeichen der Heiligen Insolvenz – schnellt, vorne an eine hölzerne Zunge gebunden, heraus und krächzt: „Glauser Preis!“ – „Die Besten!“ – „Deutscher Krimi Preis!“ Dann zieht sich die Zunge zurück in die Dunkelheit des Kastens, das Türchen fällt zu. Wer dieses Bild nicht versteht, sei an die Sache mit den Reissäcken und ihrem notorischen Umfallen verwiesen.
Zettel 124: Mittendrin in George V. Higgins. Und ein weiterer Beleg der These, dass Sprache in erster Linie der Handlung und ihrer Konstruktion zu dienen habe, NICHT der intellektuellen Bequemlichkeit der Leser. Desweiteren: Wie emotional degeneriert muss man sein, um Spannung / Vergnügen aus der alleinigen Tatsache gewaltsamer Tode zu ziehen?
Zettel 125: Ja doch: Das ewige Krimischema – jemand wird ermordet, jemand wars, jemand findet die Wahrheit, alle lesenden Jemande amüsieren sich ganz närrisch dabei – bildet die generelle Misere der Welt im Kleinen ab.
Zettel 126: Wenn sich eine Figur bei George V. Higgins seitenlang darüber Gedanken macht, wie sie sich einer ausgeleierten Unterhose entledigen kann, ist das allemal spannender als der xte Serienmord, bei dem das Opfer eine Narzisse im Arschloch stecken hat.
Zettel 127: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jemand so gut schreiben kann wie A(ndreas) Franz.“ An dieser Stelle betritt man eine fremde Welt, ein fremdes Universum, in dem man sich nicht vorstellen kann, dass jenseits des eigenen Frühstückstellers Mohnbrötchen existieren.
Zettel 128: Das für den Krimi an der „Affäre Wulff“ Interessante ist nicht die Handlung, sondern der Plot, also die dramaturgische Konstruktion der Ereignisse. Doch ganz gleich, wie man sich entscheidet: ein nennenswerter Krimi wäre das Ganze nur, wenn der Leser am Ende das Buch ohne die letzte Befriedigung einer Auflösung aus der Hand legen würde.
Wissenschaftszettel: Bescheidener Vorschlag zur Einführung eines Koeffizienten zur Berechnung der mittleren Verweildauer eines Krimis im Hirn des Lesers (KVKHL oder kurz: „Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen“-Koeffizient). Er wird mit der absoluten Lesezeit multipliziert und berücksichtigt sowohl die in Zeiteinheiten umgewandelte Zunahme / den Verlust an Hirnzellen wie die intellektuelle Aktivität (Vorurteil dividiert durch Irritation, multipliziert mit der Summe der bestätigenden Kopfnickereien). Es darf vermutet werden, dass der KVKHL im Allgemeinen unter Null sinkt, also die absolute Lesezeit die bereinigte übersteigt, was wiederum bedeutet: Man hat seine Zeit verschwendet. Steigt der Wert über Null, liest man gerade gute Literatur.
Zettel 129: Anlässlich einer Krimipause ist mir Karlheinz Deschners “ Kitsch, Konvention und Kunst“ in die Hände gefallen, 1957 geschrieben, später überarbeitet und in einem wesentlichen Punkt revidiert. Dem nämlich, dass Deschner den Kitsch zunächst als ein Kunstphänomen begriffen und die These, auch das Leben selbst könne Kitsch sein, von sich gewiesen hat. Das also stellt er jetzt richtig: „Millionen Leben – total verkitscht!“ Und Kitsch ist, so Deschner, gefährlich, „die mörderischste Droge der Welt“. Er zitiert Hermann Broch: „Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts- oder Wenigkönner, er ist durchaus nicht nach den Maßstäben des Ethischen zu werten, sondern er ist ein ethisch Verworfener, er ist ein Verbrecher, der das radikal Böse will.“ Aber was ist Kitsch nun konkret? Was ist Krimikitsch? Das Unechte, das Schablonenhafte, die – Deschner – „Als-ob-Kunst“. Richten wir unser Augenmerk also weniger auf den literarischen Schund, die naiven Schreibübungen, das bloße Weglesefutter, richten wir unser Augenmerk lieber dorthin, wo um den Kitsch das Mäntelchen der Kunst weht, das Mäntelchen der Moral, des Tiefsinns.
Zettel 130: „Was ist Krimi?“ Zunächst ist das eine viel zu vage, unvollständige Frage. „Was ist Krimi für wen und warum?“ Krimi als der kleinste gemeinsame Nenner, eine Handvoll Konventionen und Erwartungen, die jedoch selbst bei näherer Betrachtung dubios werden. Was ist Spannung? Wozu dient sie, wenn überhaupt zu etwas? Andererseits: So ergeht es allen Dingen, die man unter ein Mikroskop legt (und sei es ein so ungenügendes wie mein Gehirn). Sie zerfallen in immer kleinere Teile, ihre organisatorischen Strukturen werden obsolet und durch andere, neue ersetzt.