- Assistent: Da liegt die Leiche.
- Kommissar: Wo? Ich sehe nichts.
- Assistent: Das ist der Beweis.
- Kommissar: Für was der Beweis?
- Assistent: Für einen unnatürlichen Tod.
- Kommissar: Erzählen Sie weiter.
Es schaudert einen. Jemand könnte auf einen Knopf drücken und alles wäre verschwunden, die gesamte Literatur juché ausgelöscht, nicht einmal Asche bliebe übrig. Ein Buch kann überleben. Jemand findet es, liest es. Das Nibelungenlied. Sogar die Merseburger Zaubersprüche, ja, sogar die steinernen Hieroglyphen, vorgeschichtliche Felskritzeleien. Schrift auf Dingen, das Schwarze auf dem Weißen. Alles vorbei.
Vielleicht findet jemand in 1000 Jahren einen USB-Stick, ein Stück Plastik mit Metall, auf dem „USB-Stick“ steht. Die Reste eines Kindle, das ausgeweidete Gehäuse eines Laptops. Selbst wenn man noch das Wissen besäße, die darauf gespeicherten Dateien sichtbar zu machen, es wäre vergebens. Nichts mehr drauf, Zahn der Zeit. Einfach weg. Das ist das Schicksal der papierlosen Literatur.
Wir wehren uns dagegen. Bücher sind Bücher, haptisch, autonom. Wir benötigen ein einziges Lesegerät, unsere Augen, Bücher riechen, Bücher altern, sie sind verwundbar, ein Knick, ein Kaffeefleck, eine mit Kugelschreiber an den Rand gekritzelte Notiz, „18 Uhr bei Ute, bitte vorher anrufen“. Bücher können sterben, aber eines natürlichen Todes mit der Hoffnung auf Wiederauferstehung. Ja, manchmal verbrennt man sie auch, doch solche Verbrechen lohnen selten. Bücher sind ein Beweis dafür, dass wir existiert haben. Schrift ist ein Beweis dafür, dass wir gedacht haben. Man kann sie verfälschen, aber das ist aufwendig, das ist ein neues Buch, ein anderes Buch. Man kann unsere Worte umschreiben, aber dann sind es nicht mehr unsere Worte, ist es nicht mehr unsere Unsterblichkeit. Nicht so bei den digitalen Worten. Die sind bearbeitbare Dateien und bearbeitbare Dateien sind wie breitbeinige Huren und die Welt ist ein Ort voller lüsterner Freier. Und dann die Angst vor dem Mann mit dem Finger auf dem Knopf. Er könnte rot sein, dieser Knopf, wie bei den Atomwaffen. Du drückst und alles ist vorbei, ausgelöscht. Oder, viel trivialer, die Geräte gehen kaputt. Noch trivialer: Es gibt neue Geräte und die Daten entsprechen nicht mehr den Normen. Noch viel trivialer: Die Daten zerstören sich selbst, nach zehn Jahren, zwanzig Jahren. Man denke an Floppydiscs. Wer erinnert sich noch an Floppydiscs? An Disketten? Nicht mehr lesbar, alles verschwunden, wenn es vorher nicht gesichert wurde. Etwas sichern heißt: etwas auf seinen nächsten Tod vorbereiten.
Heute haben wir Ebooks und die bestehen aus Nichts. Die machen uns nicht unsterblich, die wird niemand ausgraben, die sind kein Beweis für die Unsterblichkeit unserer Gedanken, noch nicht einmal für den Tod unserer Gedanken. Stell dir vor, du hast gelebt und geschrieben und bist gestorben und hast weitergelebt in Büchern. Die Ebooks ermorden dich. Ebooks, das bist du selbst, wie du dich langsam ermordest. Das Ebook ist das Opfer, der Täter, die Leiche, der perfekte Mord ohne Beweis. Schauerhaft.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe mich selbst nach Kräften bemüht, schreibenden Menschen die Hoffnung auf Unsterblichkeit zu bewahren, alten Krimis, die in so wenigen Exemplaren vorhanden sind, dass sie längst auf die rote Liste der aussterbenden Gedanken gehört hätten, aber eine solche Liste gibt es nicht (dafür gibt es andere) und wenn es sie gäbe, die alten Krimis wären darin nicht aufgeführt. Sie sind mir zugelaufen, sie waren DINGE, selten zwar, ignoriert, verkannt, verpönt, bisweilen arg ramponiert, aber sie atmeten noch, sie hatten einen Körper und man konnte ihnen einen neuen Körper geben, damit sie wenigstens die nächsten 100 Jahre überleben, auf dass sie ein anderer wiederfindet und ihnen den nächsten Körper gibt. Vergebens. Niemand wird kommen. Vielleicht wird man sie zu Dateien machen, zu simplem HTML-Code, Gedanken ohne Körper, Geister, Gespenster.
Erschreckt uns das? Es erschreckt uns. Die einen glauben an Gott, die anderen glauben an das Buch. Dahinter steckt Angst, dahinter steckt Hoffnung. Natürlich wissen die einen wie die anderen, dass ihre Ängste begründet, ihre Hoffnungen dagegen unbegründet sind. Es gibt kein Leben nach dem Tod, es gibt kein Leben nach dem Buch. Aber was haben wir sonst? Das Ebook, die Digitalisierung von Literatur überhaupt ist der Beweis für die Nichtexistenz der Unsterblichkeit. Sie ist der Beweis, dass Fortpflanzung die einzige Möglichkeit ist, etwas von uns über unser Ende hinaus zu bewahren, etwas weiterzugeben, das nicht mehr ICH ist, in dem aber etwas von unserem Ich erhalten bleibt, auf sehr verquere Weise erhalten bleibt, so wie ein paar Gene in einem Kind, das uns immer fremd bleibt vielleicht.
Ich schreibe etwas und du liest es und das erzeugt ein Kind und dieses Kind zeugt neue Kinder, die vielleicht ihre Vorväter und Vormütter nicht kennen, aber sie am Leben erhalten, ohne dass man sich an sie erinnert. Hier spielen die Medien keine Rolle. Ich habe etwas in dir erzeugt, einen Gedanken, der Autor, der Leser: ein Gedanke, die Vermischung ihrer Gene. Wir brauchen keinen Gott, wir brauchen kein Paradies, wir brauchen keinen Beweis für unser Existierthaben, wir sind unsterblich.
Ich bin ein Schriftsteller. Ich will gelesen werden. Das ist ganz einfach. Meine Sätze wollen auf fruchtbaren Boden fallen. Bis jemand auf den ultimativen Knopf drückt, der alle Gedanken auslöscht.
dpr
Sprichst mir aus dem Herzen, dpr.
Mir auch.