„Er heuchelt Interesse für die völlig überteuerten Weine, die der Händler von Gegenüber auf samtbezogenen Röhren präsentiert.“ Den Satz kennst du doch!, meldet ein hinterster Winkel meines Hirns. Der Satz steht in Guido Rohms „Die Sorgen der Killer“, aber daher kenne ich ihn nicht, ich hab ihn ja eben gerade erst gelesen. Aber, flüstert es aus meinem Hirn, du hast ihn eben auch schon früher einmal gelesen und das bedeutet, ob dir das gefällt oder nicht: Guido Rohm ist ein Dieb.
Ich habe nichts gegen Diebe. Gäbe es keine Diebe, gäbe es auch kein Eigentum, das erscheint mir logisch, man muss nur lange genug darüber nachdenken. Ohne Verbrechen keine Krimis, ohne Krimis keine Verbrechen, das sieht man aus einer anderen Perspektive. Nein, ich bin nur neugierig. Woher kenne ich diesen Satz? Diverse andere hinterste Ecken meines Hirns flüstern mir Sätze zu, aber die sind es nicht. Bis, ich habe schon fast aufgegeben, aus dem gänzlichen Nichts meines Hirns, dort wo keine Ecken mehr sind, wo gar nichts mehr ist außer einer Ursuppe einmal gelesener Sätze, eine Stimme dröhnt: GeorgeV. Higgins, Die Freunde von Eddie Coyle, Kapitel 15, erster Satz. Aufspringen, zum Regal hechten, das Buch hervorziehen, aufschlagen, suchen. Ja! Da steht der Satz! Er ist identisch mit dem aus Guido Rohms Kurzgeschichtensammlung, siehe oben. Er lautet also: „Jackie Brown fuhr den Roadrunner langsam ins Fresh-Pond-Shopping-Center, suchte sich in der Mitte des Parkplatzes eine Parkbucht und stellte den Motor ab.“
Ich lache. Ha, ha. Fresh-Pond-Shopping-Center. Und was lese ich? FRENCH-Pond-Shopping-Center. Das muss auch Guido Rohm passiert sein, als er den Satz gelesen hat, besitzergreifend gelesen, mit dem Grinsen eines Diebes im Gesicht. French-Pond-Shopping-Center! Sofort war in einer hinteren Kammer der Rohmschen Bilderablage eine Flasche Bordeaux aufgetaucht, french stuff. Nicht dass sich Guido Rohm eine Flasche Bordeaux jemals leisten könnte; er raucht zu viel, da bleibt kein Geld übrig für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Zu teuer also – und weil Rohm nicht zugeben will, dass „zu teuer“ nur bedeutet, dass die Rohmsche Sparbremse nicht greift, nennt er Weine prinzipiell „überteuert“, er schiebt die Schuld auf die ökonomische Zwangslage, in der er sich nicht aus eigenem, sondern aus Fremdverschulden zu befinden dünkt. Deshalb hat er auch kein Auto, schon gar keinen Roadrunner.
An dieser Stelle hätte jeder normale Dieb zu sich selbst gesagt: Lass die Finger von diesem Satz. Aber Rohm hatte den Satz ja schon im Mund! Er kaute bereits darauf herum! Das Auto hatte er schon abgebissen, ausgespuckt, ebenso den Namen Jackie Brown. Er kennt keinen Jackie Brown, es gibt Frauen, die Jackie heißen, es gibt Männer, die Jackie heißen, er kann sich „Jackie“ nicht vorstellen, wenn er nicht weiß, welches Geschlecht dahintersteckt. Außerdem schreibt er sowieso nur über sich selbst. Guido. Keine Frau heißt Guido, Guido muss ein Mann sein, ein ER. Er. Ein völlig überteuerter Bordeaux, ein nicht vorhandenes Auto mit Angeberstatus, ein Roadrunner! Ein Roadrunner ist eine Zeichentrickfigur, hinter der beständig ein Coyote her ist, ein Coyote namens Guido. Und dieser Coyote fällt immerfort auf die Schnauze, der ewige Loser. Auf Samt gebetet ist so einer nicht.
Nein, hier ist der Roadrunner ein Auto und Guido Rohm besitzt, siehe oben, kein Auto. Ein Auto mit samtbezogenen Sitzen! Das ist das Äquivalent zu „überteuert“, das verweist den Umstand, dass Guido Rohm kein Auto besitzt, in den Verantwortungsbereich der ökonomischen Schieflage, das macht Rohm zu einem Opfer, einem Objekt, einem Spielball, einem Prekären, einem Elenden, der in den Röhren des Profits erhitzt wird, bis ihm der letzte Euro durch die Rippen raucht und im Fett des Gegenübers, des feisten Kapitels verschwindet.
Jetzt hat Guido Rohm den Satz von Higgins vollständig verzehrt. Übrigens: Langweiliger Bursche, dieser Higgins. Rohm heuchelt Interesse, so wie ein Taschendieb Interesse für sein Opfer heuchelt, damit er näher an das Portemonnaie kommt, und dieses geheuchelte Interesse schluckt Rohm hinunter, als wäre es ein Satz, und dieser imaginäre Satz wird im Magen handgemein mit dem anderen Satz, sie umschlingen einander, wie nur Sätze einander umschlingen können, sie kopulieren, wie nur zwei Spezies kopulieren können, die sich vollständig fremd sind, Esel und Eidechse etwa – und nein, Korrektur, dies ist ein anderer gestohlener Satz, er befindet sich in dem Roman, an dem ich gerade schreibe und ich lese halt nie, ich muss mich ständig selbst bestehlen.
Guido Rohm rülpst. Wieder ein Stück Literaturgeschichte verzehrt. Es verdaut in ihm. Er wird es ausscheiden, schon rumort es, schon juckt die Schreibhand, schon ruft der Abort, dieses weiße Stück Papier. Niemand wird es merken… FALSCH, HERR ROHM! Packen Sie Ihre Siebensachen und verschwinden Sie aus der Literatur!