Was ist Krimi? Neues aus der Zettelwirtschaft 15

Und wieder ist ein Zehner voll. Diesmal mit einem Ausflug ins Literaturwissenschaftliche, Gedanken über Eskapismus und Bundespräsidenten, die Dummheit, das Elend deutschen Fernsehschaffens und – die Langeweile. Sowie noch vieles mehr. Hier am Stück, auf Facebook aktuell in Filets gehackt.

Zettel 141: Eine der Segnungen des Internetzeitalters ist die völlige Demaskierung der Dummheit, das schamlose Abwerfen der in so großer Vielfalt tragbaren Hüllen, bis nur noch angesichts des jämmerlichen Kerns jeglichen Dummseins das nackte Entsetzen im Auge des Betrachters verbleibt. Dieser so gewaltig wie verkniffen hervorbrechende Rassismus (etwa anlässlich einer Castingshow, bei der eine „Negerin“ gewonnen hat), diese von der therapiebedürftigen Verkorkstheit der eigenen Sexualität befeuerte Homophobie, die Lust an der Brandstiftung, die – werden wir psychologisch – latente Analfixiertheit, das Sich-minderwertig-Fühlen, das völlige Beseitigen des simpel Faktischen mit Hilfe einer wie irre kolportierenden Kombinatorik – ach, es sind Fallstudien des Banalbösen, sprich gefährlich Dummen, der abgrundtiefen Verflachung von Gehirnen, des alltäglichen Monströsen eben, das in der Kriminalliteratur zumeist und fälschlich in den Rang des Exzeptionellen gehoben wird. Also, Autorinnen und Autoren, begebt euch in die Tiefe des digitalen Netzes, wo die Perversionen lauern, dieser normale Bodensatz all der Maläsen, der unsere Welt im Innersten zusammenhält. Ein Tag unter den gewöhnlich sterblichen Dummen ist für das Studium des Verbrechens ergiebiger als ein Monat unter mafiösen Vereinigungen, klüngelnden Politikern oder global brandschatzenden Finanzjongleuren. Erste Lektion: Warum Dummheit nicht die Abwesenheit von Intelligenz bedeutet. Sondern ihr krankhaftes Ausgeprägtsein.

Zettel 142: In den „Berechnungen II“ von 1956 benennt Arno Schmidt drei „Spektralklassen der Geister“, die er anhand verschiedener Ausprägungen von „Längeren Gedankenspielen“ definiert. Lassen wir einmal die schmidtspezifische poetologische Problematik beiseite (mein Gott, ich habe in den 80er Jahre ganze HEFTE darüber geschrieben!), hat diese Kategorisierung doch einige Affinität zur Konzeption von Kriminalliteratur. Zunächst: Schmidt geht von zwei Ebenen E I und E II aus, wobei (jetzt streife ich die Problematik doch) allerdings nie ganz klar wird, ob es sich bei beiden um textinterne Ebenen handelt. Jedenfalls: Von Ebene I aus entwickelt sich das längere Gedankenspiel E II. Die drei Typen sind: a) Bel Ami. Das Gedankenspiel als Kontrast zur „wirklichen Welt“ E I. b) Querulant. Das Gedankenspiel entwickelt sich als Parallele zur „wirklichen Welt“, die debattierend aufgearbeitet wird. c) Gefesselter. Das Gedankenspiel als Steigerung von Realität ins Allgemeingültige. Die Grundhaltungen sind dabei a) optimistisch, b) misstrauisch oder bei c) pessimistisch.
Wohlgemerkt: Schmidt betrachtet das Ganze aus der Warte des Autors, der sich darum bemüht, „Wirklichkeit abzubilden“. Aber zu dieser Wirklichkeit gehört auch das Lesen. Übertragen wir das also auf das Leseverhalten eines Krimikonsumenten, dann wird klar: Jede Lektüre (E II) ist eskapistisch, eine Reaktion auf die Wirklichkeit (E I). Im Falle des „Bel Ami“ bedeutet sie Flucht in eine bessere Welt, in der sich der Leser qua Identifikation als Held produzieren kann („Schund“). Bei Typ „Querulant“ beschäftigt er sich mit dem Zustand der Welt, er ist an Erkenntnis interessiert, ein idealer Konsument von „realistischen“ Krimis. Der „Gefesselte“ indes bevorzugt das, was wir „Noir“ nennen. Laut Schmidt ist dies die höchste Form des Längeren Gedankenspiels.

Zettel 143: Wenn die aktuelle deutsche Kriminalliteratur dort ankommt, wo die deutsche Nichtkriminalliteratur mit Büchners „Woyzeck“ schon mal war, wäre sie auf der Höhe der historischen Zeit.

Zettel 144: Die deutsche Krimiszene ist so tot, dass man ihr beim Atmen zuhören kann.

Zettel 145: Bleiben wir kurz bei Schmidt und den „Berechnungen“, die ja, auf das Lesen gemünzt, der Literatur ein eskapistisches „Potential“ als naturgegeben zuordnen. Flucht. Flucht vor etwas, Flucht in etwas, Voraussetzung für Flucht: Angst vor etwas und / oder die Sehnsucht nach etwas. Flucht auch: Bewegung, das Gegenteil von Ausharren / Erleidenwollen / Zufriedensein / Akteursein. In dieser Begrifflichkeit manifestiert sich Literatur, die hohe wie die nicht ganz so hohe, also auch der Krimi. Dessen Eskapismusangebote sind immer aus dem Blickwinkel der elitären Literaturbewertung betrachtet worden: Vergessen, verdrängen, verschönen. Aber man kann eben auch, theoretisch, in Goethes Weimarer Landhaus sitzend, Schillers „Räuber“ lesen und bis nach Buchenwald rüberblicken. Lesen nicht auch wohlbestallte Befürworter von „Arbeitsmarktreformen“ jeglicher Art anlässlich des 175. Todestages von Büchner behaglich „ihren Woyzeck“? Stichwort, siehe oben: Literatur als Hure, nein, korrekt: Literatur als Zwangsprostituierte unter der dogmatischen Knute kultivierter Zuhälter.

Prekariatszettel: Wieviel intellektuelle Anstrengung verkraftet das deutsche Krimipublikum? Um sich dieser Frage zu nähern, darf man krimifern bleiben und im Düster-Allgemeinen stochern. Die Hoffnung auf einen „intellektuellen Diskurs“ mit unserem neuen Bundespräsidenten zerschellt an der Frage, warum der Mann nicht endlich heiratet und wie er es wagen kann, Thesen zu formulieren, die nicht die unseren sind. Vorschlag: Schafft einen Bundespräsidentenautomaten an, sprecht eure Ansichten in ein Mikrophon, drückt auf einen Bundespräsidentenautomatenknopf und hört euch an, was dann der Automat zu sagen hat, nämlich das, was ihr gerade gesagt habt. Das ist Diskurs auf Deutsch. Oder schaut euch – wie Schreiber dieses gestern – auf Arte an, wie französische Fernsehjournalistinnen über die „Volkskrankheit Arbeitslosigkeit“ einen Film drehen und wie ihre deutschen KollegInnen das zu tun pflegen. Wer dann zufälligerweise unweit der französischen Grenze wohnt, wird sich danach überlegen, ob er seine Zelte nicht zehn Kilometer weiter südlich aufschlagen soll. Oder lest Patrick Pécherots Léo-Malet-Adaptionen und vergleicht sie mit dem durchschnittlichen Niveau deutscher „historischer Krimis“. Alles klar?

Zettel 146: Eskapismus: die Suche nach einem sicheren Ort. Kriminalliteratur: die unsicheren Orte, theoretisch jedenfalls. Praktisch: Die Orte, an denen Erwartungshaltungen befriedigt werden, der Markt für Angebot und Nachfrage, wo der Preis für Krimi bestimmt wird: affirmative Langeweile für jeden Geld- und Grützbeutel. Ich möchte endlich mal einen Südafrikakrimi lesen, in dem es nicht um Apartheid geht. Einen Wirtschaftskrimi ohne böse Banker, aber mit bösen Kleinsparern. Unsichere Orte eben.

Suchtzettel: Die elektronische Zigarette ist für den Raucher das, was der Feldwaldwiesenkrimi für den Spannungsfreund ist. Genuss ohne Reue (angeblich), eine effiziente Bedürfnisbefriedigung, die ohne die Tradition, die Metaphysik des Procederes auskommt. Einfach lospaffen, die Zigarette „nicht mehr aus der Hand legen“ müssen, niemand fühlt sich mehr belästigt, nichts verpestet die Luft. Bitte jetzt selbstständig auf den Krimi übertragen.

Zettel 147: Anlässlich der Lektüre von Michael Molsners „Dich sah ich“: Der Mann mag mit Krimipreisen überhäuft worden sein (etwas länger her schon), aber das ist explizit kein Krimi. Erinnert mich, was den Einsatz des „Krimifaktors“ angeht, an Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“. Ein Spannungsknochen, der an einem roten Faden durch den Text geschleift wird, in dem es um alles Mögliche, nur nicht um Mord und Totschlag geht. Aber doch, gut gemacht. Die Thematik im Auge behalten.

Zettel 148: Der Krimi eingezwängt zwischen Zeitvertreib und Infotainment, Content zum reibungslosen Hirntransit, mit den Augen angesogen, wie mit einem intellektuellen Laubbläser aufgewirbelt und flugs aus dem Hirn wieder raus. Ja, okay, nichts dagegen zu sagen. Unterhaltung und / oder leicht bekömmliches Wissen über die Weimarer Republik, die Zustände in deutschen Szenelokalen, die Stasi oder die Straßenverhältnisse in St. Peter-Ording. Indes: Lesen als Arbeit. Völlig aus der Mode gekommen, für Schulbücher reserviert, effizienzabhängig. Lesen als Arbeit muss sich lohnen, ein Klingeln in der Lohntüte, eine gute Note auf dem Zeugnis. Lesen als Arbeit, Arbeit als Befriedigung, Befriedigung durch Erkenntnisgewinn, der bleibt. Kriminalliteratur, die bleibt: Eine, die dich herausfordert, deine grauen Zellen in Bewegung setzt, dir deine Fernsehnachrichtengewohnheiten austreibt, dir deine Ratgeberliteratur aus dem Kopf schlägt. Aber man redet gegen eine Wand. Gegen die Wand einer Gummizelle.

Lexikalzettel: Kriminalliteratur, die: netter Versuch, auch mal ein Buch zu schreiben.

Noch-ein-Lexikalzettel: Krimikritiker, der: hält Krimi für mehr als Krimi und sich selbst für mehr als einen Schwätzer.

Und-noch-ein-Lexikalzettel: Krimileser, der, Krimileserin, die: Menschen, denen man manchmal zärtlich in den Arsch treten muss, damit sie einem selbst zärtlich in den Arsch treten, funktioniert auch andersrum.

Zettel 149: Nur noch die Langeweile kann den deutschen Kriminalroman retten. Die Zertrümmerung des Traums, der ja immer eine ungeschickt montierte Story aus Einzelteilen ist, die nicht zusammenpassen, aber von den Synapsen zu einer Geschichte geschludert werden. Zertrümmern. Lasst uns die Einzelteilen sehen, die baumelnden Schnüre.

Zettel 150: Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dass ein „realistischer Krimi“ immer ein Krimi ohne Spannung sein wird. Verbrechen sind Abfolgen von Banalitäten, die unerhörte Tat nichts weiter als Routinehandwerk, die Dramaturgie hingegen Kopfarbeit, Spekulation von außen. Das Verbrechen wird als solches nicht wahrgenommen, es ist Alltag, es ist systemimmanent und systemkonform, es funktioniert ohne Verstöße gegen Strafgesetze, es nutzt vielmehr die Natur von Justiz, ihren Interpretationsspielraum. Der Spannungsaufbau des Krimis, wie er sich über 100 Jahre herausgebildet hat, wird zum bloßen Köder für Denkfaule. Uns stehen spannende Zeiten bevor.

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