Zettel 156: Lesarten. Patricia Highsmiths „Talentierter Mr Ripley“ gibt penetrant das Lesemodell der latenten und dabei geleugneten Homosexualität vor. Tom tötet Dickie, weil er sich sexuell gleichermaßen provoziert und zurückgewiesen fühlt, ein Gefühl der Scham und der Aggression. Natürlich schwebt über allem die Vision des vollständigen Identitätswechsels, der völligen Vereinnahmung einer anderen Person – oder durch eine andere Person. Auf dieser Ebene trifft sich das Lesemodell des Romans mit dem des Krimis (und vielleicht der Literatur schlechthin?): Sich mit Ripley zu identifizieren, bedeutet seinen Eskapismus zum eigenen Ziel zu machen. Er füllt eine Stellvertreterfunktion aus, er bedient sich unmoralischer, illegaler Methoden. Das Konstrukt des „sympathischen Bösewichts“ wäre somit nicht weniger eskapistisch ausgelegt als das des „positiven Ermittlerhelden“.
Weiterer Aspekt: An Highsmith kann man studieren, wie diverse Lesemodelle in der Kriminalliteratur funktionieren, sich immer weiter vom Milieu des Genres entfernen. Das wird dann besonders evident, wenn es nicht nur EIN Lesemodell gibt – was es, nebenbei, in keiner Literatur geben sollte, denn monothematische Bücher sind trostlos. Der Spaß an der Highsmith-Lektüre liegt also darin, dass sie uns auf eine falsche Fährte führt, die berühmten roten Heringe auslegt. Dran arbeiten.