Druckbetankung aus der Hölle

Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.
Ein Erlebnisbericht.

Donnerstag, 5. September 2024
Der Bus nach Auschwitz fährt um 11.15 Uhr. Die Busgesellschaft bittet eindringlich, schon um 11 Uhr vor Ort zu sein. Ich habe mir 10.15 Uhr als Ziel gesetzt. Denn ich kenne mich am Busbahnhof in Krakau nicht aus.

Der Busbahnhof liegt unmittelbar neben Krakow Glowny, dem Hauptbahnhof der südpolnischen Stadt. Wer zu den Zügen und Bussen will, muss eigenartigerweise durch ein Einkaufszentrum hindurch. Doch die Wege in der Shopping Mall sind gut ausgeschildert und ich bin um 10.20 Uhr da. Noch Zeit für einen Milchkaffee, den ich in einer Bäckerei direkt neben den Bus-Parkbuchten trinke. Eine große, dunkle, stickige Halle auf der unteren Ebene des Gebäudekomplexes – das ist der Ort, von dem aus ich zum größten Konzentrations- und Vernichtungslager der deutschen Nationalsozialisten starte.

Der Bus ist proppenvoll, einige Fahrgäste müssen stehen. Neben mir sitzt ein spanisch sprechender junger Mann, der sich auf seinem Handy Youtube-Videos mit spanischer Livemusik anschaut. Laut. Es wird gesungen, getanzt und gelacht. Fängt ja gut an, denke ich. Aber nicht nur mein Nachbar mag Musik: Der Busfahrer hat einen polnischen Radiosender eingestellt und beschallt die Fahrgäste mit Popsongs. Die Fahrt nach Oswiecim – die Stadt, die auf Deutsch Auschwitz heißt – soll 80 Minuten dauern. Nach 85 Minuten, genau in dem Moment, als wir das Ortsschild erreichen, spielt der polnische Radiosender „99 Luftballons“ von Nena. Die deutsche Version, nicht die englische. Sekunden später fahren wir in einen Kreisverkehr – dort steht eine große Plakatwand, die Spiele des örtlichen Eishockeyklubs ankündigt. In zwei Tagen treten die Eisbären Berlin in Oswiecim an. Danach Red Bull Salzburg und dann die Straubing Ice Tigers. Meine erste Reaktion: ich erschrecke. 99 Luftballons, die Eisbären Berlin – so viel Deutsches in Oswiecim. Ist das gut? Ist das angemessen?

Sei nicht albern, sage ich mir eine halbe Minute später. Hier ist der Ort eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte – aber das Leben muss doch weitergehen. Wenn die 20-jährigen Eishockeyspieler der Stadt sich für die europäische Liga qualifizieren, dann treten sie halt gegen ein Team aus Berlin an – so what? Trotzdem: Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken. (Nachtrag: Ein paar Tage später lese ich, dass beim Spiel gegen die Eisbären die polnischen Fans ein Transparent mit der Aufschrift „Welcome to the city of your biggest crimes“ enthüllt haben. Und ein schwarz-rot-goldenes Banner mit den Worten „German death camps“).

Oswiecim ist eine kleine Stadt, es dauert nicht lange und der Bus biegt neben einem Parkplatz ab und hält vor zwei flachen, grauen Funktionsgebäuden. Wir sind da. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau. Von historischen Bauten, vom Lagergelände ist hier noch nichts zu sehen. Es ist 12.50 Uhr. Um 14.45 Uhr beginnt der dreieinhalbstündige Rundgang durch die Lager Auschwitz und Birkenau, den ich online gebucht habe. Es ist eine Guided Tour auf Deutsch. Möglich ist auch, ohne geführten Rundgang aufs Gelände zu gehen. Das ist sogar kostenlos, aber ich habe mich für die Tour mit einer „educated person“ entschieden. Ich habe noch viel Zeit, was sich nicht vermeiden ließ, weil sowohl die Busse als auch die Züge von Krakau nicht so häufig fahren und ich einen so frühen Bus nehmen musste, um nicht zu spät zu kommen. Was mach ich jetzt?

Vorm Ticketschalter und vorm Eingang in die Gedenkstätte erstrecken sich lange Schlangen. Frauen und Männer mit schwarzen „Info“-T-Shirts gehen zwischen den zahlreichen Besuchern auf und ab. Ich zeige einer jungen Frau mein Online-Ticket und frage, ob ich schon vor dem Start des Rundgangs reingehen darf. „Please go to the entrance at 14.15, with your ticket and your ID-card.“ Keine Chance, schon etwas früher aufs Gelände zu kommen? „At 14.15.“

Im Restaurant der Gedenkstätte esse ich einen Salat. Und kaufe eine Flasche Mineralwasser. Es sind 30 Grad, die Sonne brennt. Getränke sind beim Rundgang erlaubt (kein Alkohol), Essen mitnehmen ist nicht gestattet.

Um 14.10 Uhr gehe ich zum Eingang. Die Schlange ist kürzer geworden, ich zeige mein Ticket und meinen Personalausweis. Dann durch die Sicherheitskontrolle. Wie am Flughafen wird meine Umhängetasche geröntgt und ich muss den Inhalt meiner Hosentaschen aufs Band legen. Trotzdem fiepe ich, als ich durch den Kontrollbogen gehe. „Do you have a belt?“, fragt mich die Security-Mitarbeiterin. „Please show it to me.“ Ich hebe mein Hemd an und zeige der Frau meinen Bauch. „Thank you. Please go to the information desk.“

Am information desk bekomme ich einen Sticker, den ich mir aufs Hemd kleben soll. „Museum Auschwitz-Birkenau“ steht drauf, außerdem „14:45“. Am oberen Rand des fünf mal sechs Zentimeter großen gelben Aufklebers steht „DEUTSCH“. Ich pappe mir den Sticker auf die Brust und betrete die Wartehalle. Ein langgezogener weißer Raum, silberne Sitzbänke. An beiden Seiten jeweils ein Drehkreuz zum Betreten des Museumsgeländes. Einige Dutzend Menschen sind hier versammelt, ein Display informiert über die nächsten Führungen. 14.15 – Polski, 14.15 – Italiano, 14.30 – English, 14.30 – Polski, 14.45 – Deutsch .. Es gibt auch Führungen auf Russisch, Spanisch und Französisch. Eine junge Frau betritt den Raum, sie hält ein Schild mit dem Wort „Italiano“ hoch. Etwa zwei Dutzend Personen springen auf und versammeln sich um sie.

Ich setze mich auf eine freigewordene Bank und warte. Auf meinem Hemd klebt der gelbe Sticker. „DEUTSCH“. Ich fühle mich unwohl. Ich sehe Besucher mit „Polski“-Aufklebern und mit „English“-Stickern. Die Aufkleber sind rot und schwarz, auch die italienische Gruppe hatte diese Farben. Ich blicke mich im Raum um – noch bin ich der Einzige mit einem gelben Abzeichen auf der Brust.

Der Warteraum füllt sich stetig. Ich betrachte jede einzelne Besucherin und jeden Besucher. Trägt sie oder er einen Sticker? Ist er gelb? Ich suche nach den Aufklebern – in der Hoffnung, Menschen zu finden, für die ich mich später beim Rundgang nicht schämen muss … Was ist los mit dir?, denke ich, du musst dich für niemanden schämen, jeder ist für sich selbst verantwortlich. Dass mir beim Besuch in Auschwitz solche Gedanken durch den Kopf gehen, habe ich nicht erwartet.

Nach und nach werden es mehr Besucher, die einen gelben Sticker an ihrer Kleidung tragen, ich schätze, es sind etwa 25. Und plötzlich steht eine modisch gekleidete Frau im Raum, 40 bis 45 Jahre alt, in der Hand das „Deutsch“-Schild. Die gelben Aufkleber versammeln sich um sie, wir scannen unsere Tickets, dann stehen wir vor einem Schalter, wo wir Kopfhörer und Funkempfangsgeräte erhalten. Unser Tour Guide, sie heißt Weronika, hält sich ein Mikrofon vor den Mund und sagt „wir arbeiten hier mit Technik“. Sie hat einen starken Akzent, ich muss mich konzentrieren, sie zu verstehen. Wenn sie „so viel wie möglich“ meint, sagt sie „wo es möglich war“. Ich bin dankbar für dieses kleine Stück mangelnder Perfektion. Weronikas Tonfall und auch ihr Blick sind streng. Sie ist stark geschminkt. Gezupfte Augenbrauen, künstliche Fingernägel (an jeder Hand zwei blaue und drei rote). Ihr weißes Strickoberteil lässt die Schulten frei, rechte Schulter und Oberarm sind kunstvoll tätowiert.

Wir verlassen den Raum, gehen nach draußen. Um direkt wieder in ein Gebäude einzutreten – einen Kinosaal, in dem wir einen siebenminütigen Einstimmungsfilm sehen. Wir werden darauf hingewiesen, dass wir grausame Dinge hören und mit schwer Erträglichem konfrontiert werden. Dass all dies aber notwendig sei, um die Geschichte dieses Ortes nicht zu vergessen. Ist das nötig?, frage ich mich. Sollte nicht jeder, der hier ist, wissen, was er tut?

Es geht wieder hinaus. Plötzlich wird mir klar, dass ich vor mir die ersten Originalgebäude des Lagers Auschwitz sehe. Rote Backsteingebäude, kleiner als erwartet. Dazu Stacheldraht, an der Ecke ein Wachturm. Die Erkenntnis lässt mein Herz schneller schlagen. Ich würde gern stehen bleiben, den Moment auf mich wirken lassen – aber Weronika schlägt sowohl beim Gehen als auch beim Sprechen ein dermaßen hohes Tempo an, dass ich mich nicht traue, länger als ein paar Sekunden anzuhalten. Ich bin eh schon einer der Letzten unserer Gruppe, abgehängt werden will ich nicht. Zeit für ein Foto? Ich zücke mein Handy, halte es in die Luft, tippe – und weiter. Ich muss viel schneller gehen, sonst kann ich Weronika und meiner gelben Aufkleberschar nicht folgen.

Wir biegen nach rechts ab – und da ist es. Das Lagereingangstor. „Arbeit macht frei“. Auch Schriftzug und Tor sind kleiner als von mir erwartet. Wieder ist mein Impuls, innezuhalten – und Weronika gibt uns ein paar Sekunden. Allerdings folgt hinter uns schon die nächste Besuchergruppe. Und noch eine. Und vor uns sind weitere Rundgänge unterwegs, sie nähern sich von vorn und von den Seiten. Ich muss nicht nur aufpassen, den Anschluss an meine Gruppe nicht zu verlieren – ich muss auch darauf achten, anderen Besuchern nicht vor die Füße zu laufen. Und gleichzeitig Weronikas nicht endenden Schilderungen lauschen und verstehen, was sie mir erzählt. Ich fühle mich überfordert.

Wir gehen an den roten Klinkerbauten vorbei, Block 6, Block 7, Block 10. Ich versuche die Systematik des Rundgangs zu verstehen, aber es gelingt mir nicht. Weronika spricht ohne Pause, die Besuchermassen lenken mich ab. Wir erreichen den Appellplatz – den Ort, an dem die Lagerinsassen morgens und abends Aufstellung nehmen und sich zählen lassen mussten. Zum Teil dauerte die Prozedur stundenlang. Den Nazis ging es darum, den Überblick zu behalten, wie viele Menschen im Lager leben, wie viele gestorben sind, erklärt Weronika. Hat sie gerade gesagt, dass manchmal auch Leichen zum Appellplatz gebracht wurden, um sie zu zählen? Ich habe es nicht verstanden und die anderen in meiner Gruppe fragen geht nicht – die Kopfhörer verhindern die Kommunikation. „Wir gehen weiter.“ Weronika ist drauf bedacht, den Zeitplan einzuhalten. Was ich im Vorbeigehen noch lesen kann, ist die Erklärung für ein grotesk anmutendes Stehhäuschen am Rand des Appellplatzes, eine Art hölzerne Telefonzelle – mit Scheiben, aber ohne Telefon. Hier durfte sich der diensthabende SS-Mann bei schlechtem Wetter zurückziehen und hatte beim Appell trotzdem alle im Blick.

Wir betreten eines der alten Gebäude, das erste Mal. Wir sehen Ausstellungsstücke, Fotos, auch Zeichnungen von Künstlern. Es geht um die Aufnahme im Lager, die ersten Stunden der Insassen. Ich wusste bereits vorher vieles über Auschwitz, aber Weronika verblüfft mich mit einem Fakt: Im Schnitt verbrachten die Lagerinsassen weniger Zeit im Lager, als unser heutiger Rundgang dauert, also weniger als dreieinhalb Stunden. Der Name KZ ist beschönigend – Auschwitz-Birkenau war in erster Linie ein Vernichtungs-, kein Konzentrationslager. Im gesamten Lagerkomplex, der später außer Birkenau noch weitere Außenlager umfasste, kamen mindestens 1,1 Millionen Menschen ums Leben.

In den roten Klinkerbauten ist es eng. Wenn wir einen Raum betreten, treffen wir häufig auf eine andere Gruppe. Sind wir allein im Raum und halten uns länger als 30 Sekunden auf, kommt eine zweite Besuchergruppe dazu, manchmal auch eine dritte. Auf den Treppen schlängeln wir uns aneinander vorbei, auf den Türschwellen gilt es Zusammenstöße zu vermeiden.

Wir betreten Block 4, wo in einzelnen Räumen das Fotografieren verboten ist. Hinter einer großen Glasscheibe lagert eine Tonne menschliches Haar. Bevor die ermordeten Lagerinsassen verbrannt wurden, ließen ihnen die Nazis die Haare abschneiden, eine Tätigkeit, die das „Sonderkommando“, eigens dafür ausgewählte Häftlinge, übernehmen musste. Ein Raum weiter liegt ein Brillen-Hügel. Noch erschütternder ist der Berg von Kinderschuhen … tausende Schuhe, alle Kindergrößen, verschiedene Farben. „Und wir gehen weiter.“ Weronikas Stimme zwingt mich, den Blick von den Schuhen abzuwenden.

Block 11 ist ein Gebäude mit Haftzellen, ein Ort der Bestrafung und Folter. Stehzellen, in die die Opfer auf Knien hineinrutschen und sich dann aufrichten mussten – die Zellen sind so eng, dass nur Stehen möglich ist. Eine ganze Nacht lang. Und am nächsten Morgen mussten sie wieder zur Zwangsarbeit. Zwischen Block 11 und 10, nach vorn und hinten durch Mauern begrenzt, liegt der Exekutierplatz. Hier wurden Lagerinsassen erschossen, erhängt oder an ihren auf dem Rücken zusammengebunden Handgelenken aufgehängt. Die Holzpfähle, auf halber Höhe versehen mit einem dicken Metallring, stehen noch. An der hinteren Mauer sind Kränze niedergelegt und Kerzen aufgereiht. Unsere Gruppenleiterin gewährt uns eine Minute, dann wird der Rundgang fortgesetzt.

Ich habe den Eindruck, die Zahl der Besucher auf dem Gelände wird immer größer. Vor allem in den Gebäuden drängen sich die Menschen. Schon beim Buchen des Rundgangs gab es auf der Webseite einen Hinweis, das Interesse an der Gedenkstätte sei „überwältigend“. Das verstehe ich. Dass bei der Planung der Rundgänge die Würde des Ortes offenbar nicht an erster Stelle steht, verstehe ich nicht.
Vorm letzten Gebäude, das wir betreten, steht ein Galgen auf einem Podest. Fast beiläufig sagt Weronika: „Das ist der Galgen, an dem der Lagerkommandant Rudolf Höß hingerichtet wurde. Ein polnisches Gericht hat ihn 1947 zum Tod durch den Strang verurteilt.“ In Sichtweite des Galgens, aber für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, liegt das Haus, das Höß mit seiner Familie bewohnte.

Es geht ein paar Stufen hinab. Weil mich Höß und der Galgen noch beschäftigen, habe ich nicht verstanden, was wir jetzt sehen werden. Es ist die Gaskammer des Stammlagers Auschwitz. Ich erstarre. Dunkel, grauer Beton … sind dasStahlträger an der Decke? Weronika weist uns auf die Öffnungen in der Decke hin. „Dort haben die SS-Männer das Zyklon B hineingeworfen.“ Direkt angrenzend stehen wir vor zwei Verbrennungsöfen, es ist das Krematorium. „Wir gehen weiter.“ Ich will mich noch nicht in Bewegung setzen, aber als ich merke, dass ich der Letzte in unserer Gruppe bin, nehme auch ich die Stufen nach oben ins Freie. Weronika und die Gruppe stehen im Kreis versammelt. „Hier endet der erste Teil des Rundgangs.“ Zwei Stunden sind vergangen. „Bitte geben Sie die Kopfhörer ab und gehen Sie dann die Treppe dort hinten hoch. Dort finden Sie auch das Restaurant und Toiletten. In einer Viertelstunde treffen wir uns wieder. .. reicht eine Viertelstunde? Dann nehmen wir den Shuttlebus zum Lager Birkenau, dort setzen wir den Rundgang fort.“

Ich stehe unschlüssig in der gleißenden Sonne. Erst mal zur Toilette, vorsorglich. Am Automaten vorm Gedenkstätteneingang will ich Wasser kaufen, aber ich scheitere. Die Flasche kommt nicht raus. „You have to press ‚o.k.‘ after you have put your card in front of it“, sagt die freundliche Frau, die nebenan den Snack-Automaten auffüllt. „Dziekuje“, bedanke ich mich, ziehe die Wasserflasche raus und muss mich beeilen, auf die andere Straßenseite zu kommen. Der Shuttlebus fährt gerade vor.

Brzezinka liegt etwa drei Kilometer entfernt, die Fahrt zum Lager Birkenau dauert sieben Minuten. Während das eigentliche Stammlager Auschwitz im Juni 1940 von den Nazis in Betrieb genommen wurde, begannen die Transporte nach Birkenau erst 1942. Die Nazis errichteten es vor allem als Vernichtungslager, es wurde aber auch als Arbeitslager genutzt.

Als der Bus uns ausspuckt, stehen wir vor dem Eingangstor. Ein ikonischer Anblick. Ungezählte Zeitungsartikel und Film- und Fernsehdokumentationen verwenden das Bild dieses Gebäudes. Der Eingang zur „Fabrik des Todes“. Ursprünglich sahen die Pläne ein Lager für 200.000 Insassen vor, die Gesamtfläche umfasste 140 Hektar.

Auch im Lager Birkenau sind viele Besuchergruppen unterwegs. Aber durch die schiere Größe des Geländes wird der Rundgang anders als im Stammlager. Der Blick kann schweifen, wir stehen anderen Gruppen nicht mehr im Weg. Die Gefahr, mit Besuchern zusammenzustoßen, ist gering – und ich kann mich viel besser auf die Informationen, die Weronika uns vermittelt, einlassen. Sie spricht ohne Mikrofon, wir müssen uns enger um sie versammeln, um sie zu verstehen. Ich bin erleichtert – hier ist es viel besser möglich, dem Ort gerecht zu werden. Auch Weronikas „Und wir gehen weiter“ klingt hier anders, weniger drängend.

Wir gehen einen Kiesweg zwischen Gleisen entlang. Die Judenrampe. Hier trafen die Züge ein, die Menschen – sofern sie die Fahrt überlebt hatten – stiegen aus und wurden selektiert. SS-Ärzte entschieden, wer leben darf (zumindest vorerst) und wer sofort in die Gaskammer muss. Die Judenrampe liegt im vorderen Teil des Lagers Birkenau, wo noch viele Gebäude erhalten sind.

Funktionsbauten, aber vor allem Wohnbaracken. Im hinteren Teil stehen nur noch Ruinen – dort war das Vernichtungslager mit Gaskammern und Krematorien. Im Herbst 1944 begannen die Nazis ihren Rückzug Richtung Westen und sprengten die Gebäude – es sollten keine Beweise zurückbleiben.
Von einer der Gaskammern sind noch Steine und Geröll übrig, die Struktur der Anlage mit den vorgelagerten Räumen, wo sich die Menschen ausziehen mussten, bevor sie die angeblichen Duschräume betraten, ist noch zu erahnen. Komplett erhalten sind die Stufen, die hinab zum Tod führten. Weronika erzählt von der Menge an Asche in den Krematorien – und dass wir uns klarmachen sollen, dass wir auf einem riesigen Friedhof stehen. Denn auch wenn die Nazis versuchten, die Asche der Menschen abzutransportieren und als Dünger oder beim Bauen zu verwenden, es blieb immer noch sehr viel übrig. Große Gruben wurden ausgehoben und befüllt. An einer davon erinnert ein Gedenkstein an die ungezählten Opfer, auf deren Überresten wir hier stehen.

Mit der Besichtigung einer Wohnbaracke endet der Rundgang im Lager Auschwitz-Birkenau. Wie sie es schon den ganzen Nachmittag tat, wählt Weronika auch jetzt drastische Worte, schildert viele Einzelheiten. „Viele Lagerinsassen hatten Durchfall. Sie bekamen oft verdorbene Lebensmittel, es gab Krankheiten. Zur Latrine zu gehen war nur morgens und abends erlaubt. Und wenn die Lagerinsassen beim Zählappell vor der Baracke standen und die Scheiße am Bein herablief, wurden sie sofort bestraft. Geschlagen, gefoltert, manchmal auch getötet.“ Mit einem Zitat eines Lagerüberlebenden beendet Weronika den Rundgang. Nie solle man aufhören, die Geschichte dieses Ortes zu erzählen. Damit sich nie wiederhole, was hier geschah.

Unsere Gruppe löst sich auf. Wir gehen einzeln zurück zum Shuttlebus, der uns wieder zum Stammlager bringt, dem Start unserer Guided Tour. Mir ist nicht nach Reden zumute. Noch bevor ich in den Bus steige, entferne ich den Aufkleber von meinem Hemd. „DEUTSCH“.

Der Rundgang dauerte länger als die angekündigten dreieinhalb Stunden, aber ich bin noch im Zeitplan. Vorm Haupteingang der Gedenkstätte fährt mein Bus zurück nach Krakau, 20 Minuten vor der Abfahrt treffe ich dort ein. Es ist kurz vor 19 Uhr. Noch immer sind etliche Besucher hier unterwegs, aber es sind deutlich weniger als am Nachmittag. Ich steige ein, der Bus ist nicht mal halbvoll.

Fakten, die ich bislang nicht kannte, habe ich nur wenige erfahren. Aber deshalb bin ich nicht nach Oswiecim gefahren. Warum dann? Um einmal dort zu stehen, wo es geschah. Um zu spüren, wie sich die Hölle anfühlt. Die Gaskammer, die Judenrampe. Die kleine Gefängniszelle im Keller von Block 11, die nur einem Zweck diente – einen Menschen so lange einzusperren, bis er verhungert war.
Meine Erwartungen haben sich bestätigt: Zu lesen und zu hören, was passierte, ist das Eine. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Empfindungen, die meine Anwesenheit am Ort des Geschehens ausgelöst hat.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, jeden Menschen einmal in seinem Leben nach Auschwitz zu bringen. Ihn drei Stunden lang über das Lagergelände zu führen. Damit alle, die es nicht sind, vernünftig werden. Damit sie aufhören zu hassen. Ganz abgesehen vom praktischen Problem – könnte das funktionieren?
Draußen, hinter den Scheiben, ist es dunkel geworden. Der Bus rollt gemächlich nach Krakau. Ich freue mich auf die Menschen dort.

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