Elizabeth George hat sich Zeit gelassen. Zeit, um ihren neuen Roman zu schreiben und Zeit, um die neue Handlung aufzubauen. Mit genüsslicher Akribie baut sie über 900 Seiten die verschiedenen Handlungsstränge auf, um den Leser -fast unbemerkt- immer tiefer in den Strudel der Ereignisse zu ziehen: Eine Frau wird im nächtlichen London überfahren. In ihrer Tasche ein Zettel mit dem Namen des Mannes, der ihre Leiche findet.
Wer bisher den Fehler gemacht hat, sich von den schwülstigen Klappentexten abschrecken zu lassen, bekommt mit „Nie sollst du vergessen“ zum elften Mal die Chance, die ungleichen Ermittler Thomas Linley und Barbara Havers kennen zu lernen. Die Handlung wird dominiert von der Familie Davies, deren Sohn Gideon als Wunderkind aufwächst und zum gefeierten Stargeiger heranreift. Bei den Aufzeichnungen von Gideon, die dieser für seine Psychologin Dr. Rose schreibt, benutzt Elizabeth George das erste Mal die Ich-Form. Gideon wühlt in seinen Erinnerungen, während Dr. Rose nie in Erscheinung tritt. Der Leser fühlt sich fast genötigt, diesen Part auszufüllen, um dem verstörten Geiger Halt zu geben.
Was passierte vor zwanzig Jahren, als seine kleine Schwester ertrank? Stehen die damaligen Ereignisse in Zusammenhang mit seiner plötzlichen Unfähigkeit zu spielen? Mit geschickten Zeitsprüngen zwischen den Aufzeichnungen und der Gegenwart führt die Autorin den Leser tief in die Geschichte, ohne ihm Anhaltspunkte zu geben. Dass man das Geschehen trotzdem hoch interessiert verfolgt, liegt an ihrem unnachahmlichen Stil. Jede neue Figur inspiriert die Vorstellungskraft, verändert die Gegebenheiten und öffnet neue Türen. Die relativ unwichtige Yasmin Edwards wird mit wenigen Zeilen so pointiert beschrieben, dass man die Frau vor sich sehen kann.
„Nie sollst du vergessen“ lebt nicht von einem erkennbaren Spannungsbogen, das Buch lebt von Elizabeth Georges Mut, sich auf neues Terrain zu begeben. Alle ihre Bücher waren mehr als Krimis, aber „Nie sollst du vergessen“ ist ihre bislang eindrucksvollste Charakterstudie.