Frédéric Brenner hat Juden im Exil fotografiert, ein halbes Leben lang. Sein Bildband „Diaspora“ wirft eine einzige Frage auf: Was ist eigentlich jüdisch?
Sein erstes Foto schießt Frédéric Brenner mit 18 im ultraorthodoxen Viertel von Jerusalem, in Mea Shearim. Er ist Jude, studiert Sozialanthropologie in Paris. „Ich dachte, das sei das authentische Judentum“, sagt Brenner. Seine Fotos zeigen Chassiden ins Gespräch vertieft und tanzend mit einem weißbärtigen Rebbe auf einer Sukkot-Feier, ein inszeniertes Spiel mit Licht und Schatten, rembrandtartig, feierlich – eine eingefrorene Idylle, nostalgisch gelebte Erinnerung an das osteuropäische Schtetl im 18. und 19. Jahrhundert.
Es sind Schnappschüsse von frommen Juden, die sich weit zurücklehnen, in die Vergangenheit, ohne umzufallen, zu fürchten, ins Stolpern zu geraten, wie es moderne Juden tun würden, schreibt der amerikanische Rabbiner Tsvi Blanchard im Essayband „Stimmen“, der zu Brenners Bildband „Diaspora – jüdisches Leben heute“ erschienen ist: „Wie merkwürdig das ist. Wir können uns authentische Juden nur als Menschen vorstellen, die wir nicht sein wollen.“
Mea Shearim ist die Enklave in der Enklave,
die Diaspora, die es selbst in Jerusalem gibt, urteilt der französische Philosoph Jacques Derrida. „Die Diaspora ist das Fremde in Innern des eigenen Zuhauses“, schreibt er zu „Purim“, einem Foto von lyrischer, fast metaphysischer Stille. Ein Mann mit Fellhut im langen, schwarzen Mantel eilt auf dem Heimweg von der Synagoge an einer verschneiten Gasse vorbei, durch die ein Kind mit Engelsflügeln hüpft. Es stellt Brenners ewige Frage: Wie viel Identität ist Maskerade? Wie viel Maskerade braucht Identität?
80 000 Fotos hat der 44-Jährige inzwischen zusammengetragen von Juden aus aller Welt, ein Jahrhundertprojekt, gefördert von prominenten Sponsoren wie Steven Spielberg und Estée Lauder – 264 davon sind in dem neuen Bildband zu sehen, elegische, bittere, respektlose. Einige wirken melancholisch-karg, andere provozierend inszeniert, stets auf der Suche nach Heimat, Erbe, Eigenheit und dem bewundernden Blick für die Anpassung an den neuen Ort.
„Nichts Jüdisches ist mir fremd“, hat Kabbalistik-Professor Gershom Sholem gesagt. Kein Motto passt besser zu Brenners Arbeiten: Die Menschen seiner Bildern sind tadschikische Friseure, Juden mit schweren Maschinen aus Florida, jüdische Kruzifixverkäufer in Rom, ein sowjetischer General, ein indischer Kaufmann aus Kalkutta mit seinem Butler, New Yorker Psychoanalytiker und Polen, die sich für das Passionsspiel in Tykocin einmal im Jahr als Juden verkleiden.
„Identität schließt immer eine Dimension von Schauspielerei, von Nachahmung ein“, sagt Daniel Dayan, Professor für Semiotik und Filmästhetik in Paris. „Brenner zeigt uns, dass Identität nicht mehr als eine Fiktion ist, aber das mindert in keiner Weise ihre Kraft.“ Identität wird verstanden als Konstrukt, als eigenes und das der andern, vor allem der andern – wie im Fall der europäischen Juden zur NS-Zeit, Identität als Negativität. „Etwas darf nicht sein, weil es ist“, schreibt die Wiener Dramatikerin Elfriede Jelinek zum Foto vom kleinwüchsigen Hutmacher Leonid Semyonovich Doktor aus dem ukrainischen Schargorod. Er hat die Hände in den Taschen verborgen und ein skeptisches, selbstbewußtes Lächeln – einer, der überlebt hat und geblieben ist.
Wer ins Exil geht, kann das Eigene deutlicher spüren – oder verlieren. Der Grad zwischen Bewahren und Verrat der Tradition ist schmal, der Preis hoch: Einsamkeit, Selbstzweifel, diffuse Schuldgefühle. Brenner fragte sich auf seinen Reisen immer wieder: „Wie kann man ein anderer werden und sich dennoch treu bleiben?“
Das Exil, entdeckte er, zwingt vor allem zu einem: zur Neudefinition. 1994 fotografiert er New Yorker Frauen am Jewish Theological Seminary of America mit Tallit und Teffilin, Pionierinnen des 21. Jahrhunderts. Dozentinnen, Rabbinerinnen, Kantorinnen und Studentinnen schauen selbstbewusst in die Kamera, ernst und entschlossen – auf Widerstand gefasst. „Die Frage der Identifikation steckt in jeder ´jüdischen Frage´“, schreibt Derrida. „Ich versuche zu identifizieren, aber ich versuche auch, mich zu identifizieren, während ich die Grenzen einer solchen unwiderstehlichen Versuchung, eines solchen Zwangs, aufzuspüren suche.“
Juden in der Diaspora führen ein Leben in der Schwebe, geprägt, so Derrida, von Eigentum, Enteignung und Aneignung. Im Monument Valley wird Frédéric Brenner 1994 Zeuge eines Treffens von Juden und Navajo-Indianern – beide Opfer von Genoziden, beide gebunden an ein Land der Vorfahren. Ein kunstvolles Bild der Begegnung hat er aufgenommen auf einem Highway, den Canyon und die Indianer im Rückspiegel eines Autos festgehalten. „Es geht um eine Rückkehr als Rückblick im Rückspiegel der Seele“, schreibt Jacques Derrida dazu.
„Ist die Aufforderung, sich zu erinnern, dieses ´Vergiss nicht`, nicht etwas dem Jüdischsein Eigentümliches?“, fragt sich der französische Philosoph. Keiner tut das scheinbar mit so viel Stolz, Grazie und Selbstbehauptung wie die Familie Benchimol, reich geworden durch den Kautschukboom im brasilianischen Manaus, die Brenner in der Oper 1991 abgelichtet hat. Elegant gekleidet, aber geisterhaft und vereinzelt steht der Familienclan im Spiegelsaal, die Positionen im pompösen Foyer sind exakt eingenommen – doch die Verlorenheit scheint grenzenlos. Solche Fotos sind für Sidra Dekoven Ezrahi, Professorin für Vergleichende Jüdische Literaturwissenschaft in Jerusalem, „Ethnografie, in situ eingefangen in ihrem wunderlichen Anachronismus, Seiten in einem National (Jewish) Geographic-Heft“.
Die Benchimols, schreibt Ezrahi, haben in Manuas einen Vorposten europäischer Kultur, eine Kolonie im brasilianischen Regenwald errichtet: „Neben Champagner, Kaviar, Kristall, edlem Leinen und Seide importierten sie auch die italienische Oper.“ Und der ägyptische Journalist André Aciman überlegt bei ihrem Anblick: „Ein Jude ist immer jemand, bei dem man fragt: Warum um alles in der Welt ist er nicht da, wo er hingehört? Und die Antwort lautet natürlich: weil er Jude ist.“ Ihn, der in New York lebt und schreibt, beschäftigt: „Ist ein Jude, wer für immer anderswo ist?“ Oder besser gesagt: „Ist ein Jude, der sich nie sicher ist, dass er noch etwas anderes ist als ein Jude?“
Frédéric Brenner faszinieren immer aufs Neue Widersprüche, Brüche, etwa die schwarzen Hausmädchen in Johannisburg, die einen jüdischen Kochkurs besuchen müssen. Er fotografiert sie mit Schabbatbrot und stolzer Vorkochdame unter Antilopenköpfen im Raum eines Tierpräparators – Siegestrophäen der reichen Weißen in Südafrika. Und er reist nach Miami, wo Rabbiner Loring Frank fünfmal im Jahr Massenbekehrungen anbietet: Drei Stunden Belehrung in Judentum und Kabbalah, rituelles Bad, hebräischer Name und Mittagessen, Bagel mit Lachs, „schon sind sie Juden“, schreibt er zu seinem Foto von 1994, das eine Gruppe in Bikini und Shorts unter Palmen zeigt – ein spirituelles Drive-In unter der wärmenden Sonne Floridas.
Manche Fotos sind bewusst schockierend wie die halbnackter jüdischer Brustkrebsopfer, lesbischer Töchtern von Holocaust-Überlebenden und verzweifelter Mütter der Juden, die während der Militärdiktatur in Argentinien verschwanden. In weißen Hemden stehen sie vor einer sterilen Kachelwand. Andere sind ironisch-spielerisch wie die „Marxisten“ aus New York, 16 als Groucho Marx verkleidete Schauspieler mit Brille, Zigarre und Schnurbart. Die Marx Brothers überwanden – im Freudschen Sinn – die Demütigung der Juden im Exil durch Humor, durch Verwandlung, Theater, die Macht der Träume.
Hollywood ist eine „der beiden jüdischen Utopien“, die im 20. Jahrhundert entstand, schreibt Literaturwissenschaftlerin Ezrahi: „Die verzögerte Ankunft des Messias ist die Ethik von Purim und von Hollywood, die Ethik einer unvollkommenen Welt, die uns einlädt zu spielen, während der Erlöser zaudert.“ Die Komödie war das Spezialgebiet amerikanischer Juden, schreibt Ezrahi, „die Komödie des schönen Scheins, die entgiftete Katastrophe, die sich entfaltet, während die Epen und Tragödien unserer Zeit auf anderen Bühnen, unter anderen Schnurrbärten aufgeführt wurden.“
Nur in wenigen Fotos beschäftigt sich Brenner übrigens mit dem Holocaust, obwohl er selbst einen großen Teil seiner Verwandtschaft verloren hat. „Ich wollte zeigen, wie Juden leben“, sagt der 44-Jährige, „nicht, wie sie starben.“
Viele spannende Geschichten hat Frédéric Brenner entdeckt, zum Beispiel die Marranen von Belmonte in Portugal, die heute noch – wie zur Zeit der Inquisition – heimlich Schabbat feiern, innerlich Juden, äußerlich Katholiken. Marranen (portugiesisch: Schweine) ist ein Schimpfwort für die Juden, die nicht bereit waren, für ihren Glauben zu sterben. Heute ist aus der Feier auf dem Dachboden, der Vorsicht, dem Geheimnis, weil es lange so praktiziert wurde, ein eigenes, sakrales Ritual geworden.
„Vergessen ist die furchtbare Wahrheit der Vorfahren, die der Unverzeihlichkeit ihres Jüdischseins ausgeliefert waren“, schreibt Philosoph Benny Lévy, Sartres Assistent, über Brenners Fotos. „Das Gebet“ zeigt drei Marranen unter freiem Himmel, die sich die Augen verdecken. Damit verfremdet, übertreibt er, um zu zeigen: Auch sie lauschen dem Unsichtbaren. „Der Jude ist ein Pilger, der den Wegen der Welt folgt“, schreibt der Rabbiner Daniel Epstein dazu, „von einer Furcht getrieben, die mehrere tausend Jahre alt ist, lauscht er einer inneren Stimme, die mächtiger und anders als seine eigene ist.“
Das Beharren auf dem Anderssein prägt jüdische Geschichte so sehr wie die Sehnsucht nach dem Ende des Exils. „Meine Umwelt muss spüren“, sagt der Genfer Investmentbanker Solly Alain Lawi, den Brenner 2002 fotografiert hat, „wie ich mich oft gleichzeitig fremd und dazugehörig fühle, als Teil eines Volks und einer Tradition, die überall auftaucht und nirgends hingehört.“
Auf die Frage: „Was ist jüdisch?“ hat Brenner inzwischen mehr Fragen gefunden als Antworten, mehr Diskontinuität, Paradoxien als Kontinuität. Er weiß nur: Das authentische Judentum gibt es nicht. Und vielleicht ist das auch gut so. „Das Schädlichste für die Juden heute sind die Etikettierungen“, sagt Shimon Freundlich, ein Lubawitscher Rebbe, den Brenner 1998 auf einer Dschunke im Hongkonger Hafen fotografiert hat.
Im Midrasch heißt es, dass die Wahrheit in tausend Stücke zersplittert, wenn Gott sie auf die Erde wirft. Wenn wir das Bruchstückhafte als Geschenk sehen, nicht als Makel, lehrt Brenners Bildband „Diaspora“, wird aus der ängstlichen Frage, wer wir sind – jüdisch oder nicht – eine gelassene, spannende Entdeckung des Eigenen
im Anderen.
Diaspora. Jüdisches Leben heute von Frederic Brenner,
geb. Ausgabe, 520 Seiten, Knesebeck, November 2003, 98 Euro
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