Wer vom „politischen Krimi“ spricht, denkt an Sjöwall / Wahlöö. Tatsächlich waren sie in den 60er und 70er Jahren eine Offenbarung, ein Augenöffner gleich in mehrfacher Hinsicht. Vor allem jedoch irritierten sie uns, weil eine liebgewordene und oft beschworene Wahrheit infrage gestellt wurde. Sozialkritische Krimis aus Schweden? Das waren die Eulen nach Athen, die Kühlschränke an den Nordpol, so etwas konnte es nicht geben. Hatte man uns doch lang und breit das schwedische Modell des „Volksheims“ als die menschenwürdigste aller Lebensformen gepriesen, das Endziel jeglicher Sozialdemokratie – und dann das. Wir lasen von faschistoiden Tendenzen bei der Polizei, von sozialer Fürsorge, die zum Terrorismus mutierte, von Rentnern, die Hundefutter essen mussten, von einem Eingriff in privateste Rechte, die selbst in modernen Hartz-IV-Zeiten ungewohnt sind.
Wie uns Sjöwall und Wahlöö dies vermittelten, war brachial, kam nicht auf die feine literarische Tour daher, bei der das Wesentliche notorisch „zwischen den Zeilen“ zu stehen hat, als sei dort jemals etwas anderes zu finden gewesen als das weiße Nichts. Hier stand nichts im Ungefähren, es wurde beim Namen genannt und besaß jene Kraft der Agitation, die in der Literatur eher als negatives Element betrachtet wird. Dass die zehn Romane um Kommissar Beck und sein Team dennoch weit mehr sind als politische Meinungsmache offen mit sozialistischen Ideen sympathisierender Autoren, hat mehrere Gründe. Neben dem aufklärerischen Potential sind es besonders die Beschreibung der Teamarbeit und die Entwicklung der durchgängigen Hauptcharaktere, die zugleich die Entwicklung des Staates, der Gesellschaft und ihrer Institutionen widerspiegelt. Wir begegnen hier also dem bereits bei J.D.H. Temme beschriebenen Phänomen der Reflexion abstrakter Politik in der Biografie des Individuums. Die Entwicklung ist jedoch auch künstlerischer Natur. Die Romane werden vielschichtiger, die Plots ausgefeilter, der Humor erreicht den Zynismus, der als eine Mischung aus Mitleid, Resignation und Wut daherkommt. Einem eher unterschätzten Punkt wollen wir nun etwas genauer auf den Grund gehen: den Tätern in den Beck-Romanen.
Die nämlich unterscheiden sich vom gängigen Typus der Bösewichte. Sie sind in Alltag eher unauffällig und freundlich, in den Segnungen des schwedischen Volksheims vereinsamt und verarmt, von der unerbittlichen Bürokratie aussichtslos in die Zange genommen, durch „die Verhältnisse“ geradezu zur Tat gedrängt. Zwei der Mörder aus früheren Romanen tauchen zudem in „Der Polizistenmörder“ nach Verbüßung ihrer Strafe wieder auf. Wirkliche Bösewichte, die aus niederen Motive morden, gibt es kaum, am ehesten noch in „Alarm in Sköldgatan“ und „Endstation für Neun“. Selbst der Kindesmörder in „Der Mann auf dem Balkon“, ein sich selbst überlassener, notdürftig alimentierter Frührentner, ist bar allen Bestialischen, und „Das Ekel von Säffle“ ein Zwangscharakter in einer Welt aus Zwängen.
Die Charakterisierung der Täter, die Frage nach ihren Motiven stürzt eine der ältesten Gewissheiten des Genres von ihrem Sockel. Wenn hier „das Recht“ triumphiert (und vordergründig tut es das meistens), enthüllt es automatisch seine Niederlage, zeigt, dass es nur für die Letzten und Schwächsten in der Kette der Verbrechen zuständig ist, nicht aber für das Milieu selbst, aus dem heraus Verbrechen entstehen. Bei Sjöwall / Wahlöö hat die Tat des Einzelnen keinen primär genetisch vorgegebenen Auslöser, sie ist eine soziopolitische Konsequenz. Man mordet, weil man gute Gründe dafür hat – und das erinnert nicht zufällig an Raymond Chandlers berühmtes Zitat zum Werk seines Kollegen Hammett: „Hammett gab den Mord den Leuten zurück, die Grund haben zu morden, und nicht nur da sind, um eine Leiche zu liefern.“
Sjöwall / Wahlöös Täterzeichnungen sind hochpolitisch. Zum einen entlarven sie das Recht als Farce, als Herrschaftsinstrument. Zum anderen deklarieren sie das Individuum zum letztlich willenlosen Geschöpf seiner Sozialisation. Es muss so handeln, wie es handelt, sein Entscheidungsspielraum ist äußerst begrenzt. All das ist also keine Frage mehr von Gut oder Böse, Recht oder Unrecht, selbst die Polizisten empfinden Mitleid mit den Tätern, so wie sie Mitleid mit den Opfern empfinden und im Laufe der Romanreihe auch erkennen, dass sie selbst keine Handelnden sind, sondern Objekte, mit denen Handel getrieben wird.
Man mag diese Einstellung als weltfremde Sozialromantik abtun und in der Negierung einer souveränen intellektuellen Instanz, die letztenendes den Willen regiert, gar den Zynismus der kommunistischen Ideologie wiedererkennen, die zur Befreiung von der kapitalistischen Herrschaft über diesen Willen aufruft und doch nur durch eine andere, keineswegs besseren zu ersetzen gedenkt. Das ändert nichts an der Konsequenz, mit der Sjöwall / Wahlöö eine allgemeine Entwicklung der Kriminalliteratur fortschreiben, ohne die „das Politische“ undenkbar bleibt und die systemkonformen Bahnen des Genres zum literarisch-aufklärerischen Hamsterrad macht. Ein Text wird genau dann politisch, wenn er die Zwänge der Gegensatzpaare, der bipolar geregelten Verhältnisse überwindet. Recht und Ordnung auf der einen Seite, Unrecht und Anarchie auf der anderen – das sind keine naturgegebenen Parameter, es sind Instrumente der Macht. Sjöwall / Wahlöö greifen sie dort an, wo sie sich am unverblümtesten zeigen, bei den Tätern, die als Gefahr für dieses Herrschaftssystem bestraft werden müssen.
Chandlers Diktum richtete sich gegen den Mord, der als bloßes Spiel fungiert und das Genre durch beständiges Repetieren der alten Muster zum Unterstützer der herrschenden Verhältnisse macht. Dieses Wiederkäuen des Recht/Unrecht-Futters verhindert „Politik“. Oder anders: Nur wer das Schema der Ordnung überwindet, wie es der bloße Spannungstext abfeiert und stützt, handelt politisch, wobei es letztlich keine Rolle spielt, wo sich diese Überwindung abspielt: im Denken des Einzelnen oder im Rahmen dessen, was wir gemeinhin Politik nennen. Diese Angriffe gegen die Ordnung finden sich also bei Sjöwall / Wahlöö ebenso wie bei, sagen wir, Patricia Highsmith, sie sind auch keine „neue“ Entwicklung (siehe etwa Temme), sondern eine durch den Leserwillen in eine dominante Position versetzte, die sich „den Markt“ mit all den Konkurrenzunternehmen unpolitischer Kriminalliteratur teilt. Mit literarischer Qualität hat das zunächst gar nichts zu tun. Es handelt sich zunächst um bloße Absichtserklärungen, Vorgaben zur Weltbeschreibung. Chandler war nicht „besser“ als Christie, WEIL er politisch schrieb, Sjöwall / Wahlöö erheben sich nicht ihres Engagements wegen über die Harmlosigkeiten des Rätselmordes. Sie tun es, weil es ihnen gelingt, aus ihren Absichten glaubwürdige, überzeugende Literatur zu machen.
da haben wir doch schon einen wesentlichen punkt:
„Ein Text wird genau dann politisch, wenn er die Zwänge der Gegensatzpaare, der bipolar geregelten Verhältnisse überwindet. Recht und Ordnung auf der einen Seite, Unrecht und Anarchie auf der anderen – das sind keine naturgegebenen Parameter, es sind Instrumente der Macht.“
ich finde, es muss nicht unbedingt überwindung sein – es reicht, die gegensatzpaare sichtbar zu machen und darzustellen, dass es sich gerade nicht um ewige und allgemeingültige wahrheiten, sondern um „vereinbarungen“ in einer jeweiligen gesellschaft handelt.
„Ein Text wird genau dann politisch, wenn er die Zwänge der Gegensatzpaare, der bipolar geregelten Verhältnisse überwindet. Recht und Ordnung auf der einen Seite, Unrecht und Anarchie auf der anderen – das sind keine naturgegebenen Parameter, es sind Instrumente der Macht.“
Das kann nicht sein. Denn würde ein Autor das Gegenteil behaupten und eine Art gottgegebene Ordnung postulieren, wäre er in seinem Schreiben zwar rückschrittlich, aber trotzdem politisch. Die obige Formel ist nach meinem Eindruck eher eine politische Botschaft, aber keine Definition für einen politischen Krimi. Weitergesponnen ließe sich aus ihr aber ein Markenzeichen für literarische Qualität ableiten: Einfach, kein Räderwerk hinzunehmen, hinter die Kulissen zu schauen. So müsste aber jeder gute Roman und nicht nur der politische vorgehen. Tibor Dery war ein sehr politischer Mensch und in seinem Roman „Der unvollendete Satz“ passiert viel Politisches und viel Kriminelles. Er analysiert die Beweggründe seiner Figuren jedoch so intensiv, dass es immer schwerer wird, einen Begriff dafür zu finden. Dazu passt , dass die oben erwähnte Patricia Highsmith von manchen Krimilesern nicht als Krimiautorin angesehen wird.
Stimmt, das ist was dran. Auch die Unterstützung bestehender Ordnungssysteme ist politisch. In einem sind wir drei uns einig: „Politisch“ heißt beschreiben, hinschauen. Die Frage ist nur, ob ein solches Hinschauen und Beschreiben etwas anderes sein kann als eine politische Botschaft.