Eine Szene aus David Peace, »1974«

Wer das → Krimijahrbuch 2006 vorbestellt hatte, kennt diesen Artikel schon. Die anderen haben ihn zwar nicht verdient, aber hier ist er halt. Eine Szene, bei der dem Leser ein „Toll!“ raus rutscht, die aber auch – Warnung! – leicht ins Pornografische kippt. Und am Montag gibts wieder was zum Lachen mit dem Herrn K.
Edward Dunford, Gerichtsreporter und ebenso zynischer wie sensibler Held in David Peaces »1974«, besucht Paula Garland, die Mutter eines entführten und auf grässlichste Weise ermordeten Mädchens. Er stellt zunächst die üblichen Fragen, bekommt die üblichen Antworten. Das Gespräch wird hitziger, ein Verdacht geäußert, und plötzlich springt Dunford auf:

»›Da draußen läuft ein Mann herum, der kleine Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet, und er wird wieder eines entführen, vergewaltigen und ermorden, und niemand hindert ihn daran, weil sich niemand auch nur einen Dreck darum schert.‹

›Ich schon.‹

›Das weiß ich, aber die nicht. Die interessieren sich nur für ihre kleinen Lügen und ihr Geld.‹

Paula Garland flog aus ihrem Sessel auf, küßte mich auf Mund, Augen, Ohren, drückte mich an sich und sagte immer und immer wieder: ›Ich danke dir, ich danke dir, ich danke dir.‹«

Der Leser braucht einen Moment, bis er begreift, was hier passiert ist. Die Entwick-lung des Gesprächs, der psychischen Befindlichkeit Paulas spricht jeder Erwartung Hohn, ja, es wirkt wie ein Verrat an der Trauer um die ermordete Tochter, wenn die Gefühlswelt der Mutter plötzlich auf dem Kopf zu stehen scheint. Und es geht wei-ter. Paula führt Edward direkt in ihr Schlafzimmer, wir ahnen, was jetzt kommt.

»Meine linke Hand zog am Reißverschluß ihres Rocks, ihre Hand war an meinem Hosenschlitz.«

Aber auch hier ist es nicht die Beschreibung, die irritiert. Denn während sich die beiden lieben, erzählt Paula weiter von ihrem Kind, ihrer Trauer, ihrer Wut.

»Ich küßte ihre Brüste, ging zum Bauch über, rannte vor ihren Wörtern und ihren Küssen davon, hinunter zu ihrem Schlitz.

›Und manchmal sah ich sie erdrosselt, mißbraucht, ermordet, und dann stürmte ich in ihr Zimmer und weckte sie und drückte sie an mich und wollte gar nicht mehr aufhören.‹

Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, kratzte Schorf ab, hatte mein Blut unter ihren Fingernägeln.«

Eine unerhörte Szene, die mit keinem Raster gewohnheitsmäßigen Konsums von Krimis, ja, von Literatur überhaupt, zu fassen ist. Selbstverständlich wissen wir – denn 200 Seiten liegen schon hinter uns -, dass »1974« sich weder inhaltlich noch sprachlich um die Normen schert, die dem »Genre Kriminalroman“ immanent sein sollten. »1974« ist brutal, radikal, helden- und gnadenlos, zwischen der Tat und ihrer Aufklärung wird, auch das dämmert uns längst, keiner Spur herkömmlicher Detektion zu folgen sein. In diesem Buch ist nichts »gut«. Was auch heißt: Es kann nichts »schlecht« sein. Hier waltet kein Intellekt, hier walten Emotionen, keine lauwarmen, zivilisiert gebändigten, sondern wilde, unförmige. Und dann das.

Was? Überlegen wir kurz, was Peace mit dieser Szene eigentlich ausdrücken will: die Trauer, den Schmerz, die Wut der Paula Garland. Er hätte, wäre er ein Autor des Klischees, eine ganze Batterie von Verben und Adjektiven zur Verfügung gehabt, ein Sortiment von Verhaltensweisen und Mimiken dazu, um uns zu vermitteln, wie es um Paulas Innenleben steht.

Aber seien wir ehrlich: Eigentlich könnte er sich seine Bemühungen, uns Paulas Zustand in Wörtern und Worten nahe zu bringen, schenken, ja, wir wollen nicht lesen, Paula werde »von Trauer übermannt« oder »Schreie ihre Wut heraus« oder sei gar »tränenlos in ihrem Schmerz«. Floskeln. Floskeln, die doch nur auf die Überflüssigkeit der Bemühung hinweisen, uns etwas Unsagbares zu erzählen, das wir vielleicht nicht nachvollziehen, aber erahnen können, worin auch zwischen dem Autor und uns Lesern stillschweigendes Einvernehmen herrscht: Paulas Wut, Paulas Trauer, Paulas Schmerz sind unendlich, am negativen Ende der Gefühlsskala, mehr Worte braucht es nicht.
Und mehr Worte gibt es nicht. Peaces Taktik aber ist es nun, uns genau damit zu düpieren. Natürlich erwarten wir Worte, doch Peace antwortet damit, dass er eine zusätzliche Emotion in den großen Topf der Gefühle wirft: die Ekstase, den Extrem-wert vom anderen, positiven Ende der Skala.

Beide Werte vereinen sich durch einen dritten, eine Emotion von der Seite Dunfords: Mitgefühl. Um im Bild der Skala zu bleiben: Sie, die unbiegsame, auf der die Trauer um ein Kind stets Antipode sexueller Lust sein muss, wird plötzlich von einer mächtigen Kraft doch gebogen und vereint Trauer und Ekstase zu einem einzigen Zustand, der in der von Peace geschilderten »Sexszene« sprachlich und bildlich dargestellt wird. Zwei Menschen haben ziemlich unbeherrschten Sex, die Frau erzählt dabei von ihrem missbrauchten, ermordeten Kind.

Das ist kaum das, was man in der griechischen Tragödie Katharsis nannte, keine Reinigung, keine Befreiung. Es ist zum einen die Überhöhung der Trauer zur allmächtigen Emotion, die alle anderen wie ein schwarzes Loch zu schlucken in der Lage ist, zum anderen, davon abgeleitet, eine neue Deutung sexueller Ekstase als Ausdruck existentieller Angst.

Peace gelingt es in dieser Szene, uns die Trauer Paulas auf eine Weise nahezubringen, die verblüfft, aber nicht düpiert. oder anders: Hier gelingt es der Literatur, uns das Bekannte, für das unser Vokabular ebenso markante wie letztlich sinnentleerte Wörter hat, auf neue Art zu schildern. Genau das ist ein Kennzeichen wirklich großer und bleibender Literatur.

dpr

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