(Und wieder rotierts im Köpfchen. Form und Inhalt, das rechte Maß, die dicken und die dünnen Krimis. Verschärft Gedanken machen heißt die Nummer, ja, aber mehr als diese verschärften Gedanken kriege ich momentan nicht zustande. Ein paar besonders abwegige gibt es in nächster Zeit hier zu bestaunen. Der erste pöbelt gegen Pieke Biermann – die Strafe folgt auf dem Fuß.]
Verschärfte Gedanken I
Hat Pieke Biermann Recht? „Form(at) follows fiction“, dekretierte sie hier jüngst, als wir die dicken Krimis ins Visier nahmen. Und das möchte man eigentlich sofort abnicken, oder? Beim Sammeln verschärfter Gedanken ist mir jetzt aber der eine, unerhörte in den Sinn gekommen: Pieke Biermann hat NICHT Recht! Oder weniger dramatisch: Was sie sagt, stimmt nicht, weil es stimmt.
„Form(at) follows fiction“: das ist die Abwandlung des berühmten „form follows function“, das wir spätestens dann grimmig bestätigen, wenn wir uns auf einem furchtbar schicken Designersessel auch noch die letzte Bandscheibe ruiniert haben. Moooment, sagt da der böse verschärfte Gedanke, is ja richtig. Aaaaber: Seit wann sind denn Designerstühle dazu da, dass man sich auf sie setzt? Man guckt sie ihrer ästhetisch hochwertigen Form wegen an. Wer sich draufsetzt, ist selber schuld.
Na gut, wenden wir das mal ins Kriminalliterarische. Krimis sind Gebrauchsgegenstände. Ich lese sie, um einen bestimmten Nutzen von ihnen zu haben, spannende Unterhaltung nämlich. Den verlieren sie, wenn zuviel gequasselt wird. Krimis, aus denen mir hübsch geformte Gedankenästhetik entgegenhüpft, die mit dem eigentlichen Plot nichts zu tun hat, sind Sessel, in die man sich nicht setzen kann.
Schön, antwortet der verschärfte Gedanke, aber man kann sich ja reinsetzen. Man darf nur keinen Wert auf intakt bleibende Bandscheiben legen.
— Hm, was will er mir denn damit sagen? Wohl, dass ich einen verquasselten Krimi unter Umständen DANN goutieren könnte, wenn ich keinen Wert auf spannende Unterhaltung lege.
Der verschärfte Gedanke überlegt angestrengt. Und sagt dann: Hör mal zu. Das mit dem Sitzen in so komischen Sesseln…wie wärs denn, wenn du ganz anders…na ja, drauf sitzen würdest? Nicht so konventionell Hintern aufs Polster knallen lassen, Rücken gegen die Lehne, wie sies im Fernsehen gerade in der „Bräuteschule 1958“ lernen. Sondern eben anders: KNIE dich doch auf die Sitzfläche! Mach einen Kopfstand drauf! Setz dich verkehrt rum…
Langsam verliere ich die Geduld. Hör mal zu, verschärfter Gedanke, damit ist das „form follows function“ noch lange nicht entkräftet! Du definierst hier einfach, verdammt noch mal, das „function“ um.
Ja, ja, murmelt der verschärfte Gedanke und grübelt weiter. Ich rede mich in Rage: Das würde doch bedeuten…Wenn ich einen verschwätzten Krimi lese, einen vielleicht ästhetisch reizvollen, aber völlig unbrauchbaren Wälzer, dann definiere ich einfach die function um. Nicht mehr spannend unterhalten soll er mich, sondern — irgendetwas anderes!
Genau!, triumphiert der verschärfte Gedanke. Und sagt dann genüsslich: Deshalb hat die Biermann doch auch Unrecht! Wenn ich das „fiction“ als etwas Variables nehme, das heißt: wenn ich mich von den uralten steifen Konventionen freimache…dann folgt die Fiktion der Form und meinetwegen auch dem Format! Guck doch mal: Wer sagt denn, dass eine Story akkurat 400 Seiten haben muss! Das heißt doch, dass diese Story überall auf der Welt, in jedem Autorengehirn 400 Seiten hat! Dass nicht mal einer…sagen wir: einunddieselbe Story auf 120 Seiten eindampft, ein anderer aber auf 1200 Seiten bläht. Um die Story geht es doch überhaupt nicht! Es geht doch…. darum, wie ich mich reinsetze, verstehst du? Wichtig ist nur, dass das Ganze ästhetisch stimmt! Hat doch schon Arno Schmidt gesagt! Irgendwie….
Ja, irgendwie! Irgendwie hat der viel gesagt…Aber das hieße doch: Lustig rumformatieren, ohne Sinn und Verstand, der Leser soll halt sehen, wie er es sich gemütlich macht im Text! Das ist Anarchie, das ist anything goes at its worst, das ist neue Beliebigkeit, das ist…
Eben nicht!, heult nun der verschärfte Gedanke auf. Denn indem Pieke Biermann Unrecht hat, hat sie Recht!
Das ist ja nun der Gipfel an anything goes, heule ich zurück!
Blödsinn!, pöbelt der verschärfte Gedanke, ein Hirn wie deines, das etwas so ästhetisch Hochwertiges wie mich zustande gebracht hat, sollte nicht unter seinem Niveau räsonnieren! Also ich helf dir auf die Sprünge: Was ist denn eigentlich „fiction“,hä? Das ist doch nicht nur das, was in dem Buch steht! Die Fiktion springt doch gleich auf dich über, sobald du zu lesen beginnst, das ist doch keine Gebrauchsanweisung, wie du ein Zweimannszelt aufbaust! Du nimmst dir doch die Fiktion und steckst sie in deine eigene! Du gebrauchst sie! Du missbrauchst sie! Du liest was du willst, du deutet wie du willst! Und die Frau Biermann weiß das! Fiktion ist die Freiheit, sich so auf ihren literarischen Sessel zu knallen, wie es DIR am genehmsten ist, um DIE FUNKTION des Gegenstands optimal auszunutzen: EINE ANDERE WELT BETRETEN! Wie auch immer! Eins werden mit der Form! Also folgt diese Form, folgt auch das Format letzlich der Funktion, aber eben anders! Ein 120-Seiter über das Thema X unterscheidet sich vom 1200-Seiter über nämliches Thema X nur darin, dass du gezwungen bist, die Funktion anders zu definieren! DAS ist Literatur, du Blödmann, nicht die Zeit damit totschlagen! Sonst könntest du ja gleich fernsehen!
Aufhören!, schreie ich. Jetzt mal gaaanz langsam mit den verschärften Gedanken! Und kein Wort mehr über Designersessel! Nehmen wir mal an, es stimmt, was du behauptest. Dann bietet mir der 1200-Seiter zehnmal mehr Möglichkeiten, ihn zu lesen…
Falsch! Er bietet dir eine andere FORM! Es ist noch nicht einmal „realistischer“, wenn ich eine Geschichte über 1200 Seiten ausbreite und in allen Details erzähle, während ich beim 120-Seiter natürlich abstrahieren muss, andeuten, verstecken… Guck doch mal, du bist doch eigentlich gar nicht so blöd – Wenn du ein Bild beschreiben musst, so ein Computerbild von 300 auf 300 Pixel. Dann kannst du einfach schreiben, was du siehst: Eine Kuh, die auf der Wiese steht und Gras frisst, beispielsweise, und tschüs. Oder du kannst das Bild Pixel für Pixel beschreiben, wozu du mehr FORMAT brauchst, aber eine andere Wirklichkeit etablierst, verstehst du? Das Bild ist ja dasselbe, nur die Form ist anders! Aber die FIKTION ist weder das eine noch das andere, die Fiktion ist das, was in DEINER Wirklichkeit passiert! Das ist Lesen! Dass du deine Wirklichkeit mit der des Textes verknüpfst. Oder anders: Dass du die Wirklichkeit deiner Sitztechnik mit der Wirklichkeit des Sitzmöbels…
Ich hatte den verschärften Gedanken gewarnt, aber er wollte nicht hören. Ich habe ihn kurzerhand ins Vergessen gekickt. Weg. Ob Pieke Biermann nun Recht hat oder nicht – keine Ahnung.
Lieber dpr –
wer wird denn gleich gebrauchswertfixiert werden, bloß weil l’art pour l’art so kontaminiert ist?
Abgesehen davon, dass die Bauhaus-Formel „form follows function“ gerade NICHT auf den Designer-ChiChi zielte, den der Kunst-Markt daraus gemacht hat, sondern eben auf die Funktion von Möbeln, Häusern etc. – und das war damals eine Attacke gegen Schnörkel & Status-Gewichse -, und abgesehen davon, dass ich des alliterierenden Kalauers wegen zum Wörtchen „fiction“ greifen musste: Es geht um das Poetische, diesen frechen, anarchischen Gesell‘, der aller Kunst innewohnt. Und der lässt sich weder bannen noch bändigen noch gar kanonisieren oder – o Graus! – auf Gebrauchswertiges reduzieren. „Haut den Lukács!“
Richtig schön vertrackt treibt’s der Gesell‘, wenn er’s ausgerechnet mit der kruden, profanen Realität treiben will – da weiß man beim Schreiben bald nicht mehr, wer ist hier Faust und wer Mephisto… „Gott sein Ding!“
DAS ist es nach meiner Erfahrung, womit jeder, der KriminalLITERATUR zu schreiben versucht, ins Hand- und Kopfgemenge gerät. Und „nebenbei“ natürlich mit den Werken allermöglicher anderer in Zaum & Reit sowie mit dem banalen Wust, der tagtäglich auf eine/n einteufelt, von A wie Abgase bis Z wie Zuspruch.
Die Frage nach der Länge stellt sich, mit Verlaub, dabei nur an einer Stelle: reichen die Finanzen fürs Projekt?
Poe(li)tically yours – P.
Liebe Pieke,
du weißt ja, in Zeiten, in denen „gespaltene Persönlichkeiten“ hip sind, kann man sich nicht immer aussuchen, welcher verschärfte Gedanke sich da vom nüchternen Hirnchen abzweigt. Eins muss ich meinem Wuchergedanken aber zugeben: Wenn er von „Gebrauchsgegenstand“ im Zusammenhang mit Kriminalliteratur redet, tut er vielleicht gerade mal 10% des Genres Unrecht. Dass in denen der anarchistische Gesell sein Unwesen treibt – unbestritten. Und in einem geb ich dir natürlich volle Unterstützung: Es ist immer die Wirklichkeit, in denen das Poetische leben kann.
Aber zur Länge: Dass es auf die nicht grundsätzlich ankommt, nu, das wissen wir Männer am Besten und sagens den Frauen pausenlos (um hier mal die niederen Instinkte zu wecken: Wir wolln uns ja schließlich auch amüsiern!). Dennoch: Nicht nur ein Frage der Finanzen (das auch; wem sagst du das). Sondern eine prinzipielle künstlerische Entscheidung, die ich als erstes fällen muss. Will ichs kurz oder will ichs lang? Das heißt sofort: Mit welcher künstlerischen Intention gehe ich an ein Projekt? Verdichten, entzerren, beschleunigen, verlangsamen? Das hat Auswirkungen auf jedes Wort, das ich im Folgenden schreibe.
Und das ist es: Bei dem formlosen Romanen, den mit Banalität und Unfug vollgestopften Monstern ist das völlig wurscht. Keine künstlerische Entscheidung, keine Poesie, kein Mephisto – und Faust ist nur das, womit ich gerade mein künstlerisches ICH zermalme.
bye
dpr
*macht dir gerade ein „Datenblatt“, damit du nicht wie Hinz&Kunz-Beiträger hinten im Buch nur sieben Zeilen kriegst!
Lieber dpr,
Die Form folgt den sich verändernden Genre-Regeln.
Es ist doch nicht so, dass alle längeren Bücher dem „aufgebohrten“ Schema, welches Du im vorigen Eintrag beschriebst, folgen. Auch Du weißst doch zahlreiche Bücher zu nennen (z.B Deine persönliche Bestenliste 2006) die eben deshalb länger sind, weil sie etwas bietet, was es vor 40 Jahren nicht gab.
Natürlich gibt es viele mediokre längere Krimis, aber wer sagt denn, dass es früher nicht viele mediokre kurze Krimis gab ? Ich habe zahlreiche Krimis aus den 50er bis 70er Jahren im Keller. Da sind nicht wenige darunter, die Heute wenig Spaß machen.
Ausgangspunkt war ja der Text Schuhs, hierzu noch eine Bemerkung:
Schon immer gab es den Patrizid. Schon immer auch gab es aber auch die Gegenreaktion. Den Vorwurf der Alten an die Jungen, dass deren Werte, deren Kultur und deren Handeln zum Untergang, zum Ende des Goldenen Zeitalters führen. Der Verlauf der menschlichen Kultur zeigt, dass dieser iterative Vorwurf weitgehend Unfug war und ist.
Nun ist F. Schuh ein erfahrener Kritiker, aber wer der Länge des zeitgenössischen Krimis die Kürze der Krimis G. Simenon entgegenhält, scheint nicht verstanden zu haben, dass die Anforderung von Kulturen, … und Genres sich im Verlauf der Jahrzehnte ändern. Es ist doch genauso unsinnig Hammett mit den für Ellroy geltenden Genrevorstellungen zu bewerten, wie Littell mit denen die Ambler prägte.
Beste Grüße
bernd
PS Außerdem was erwartet er denn ? In Zeiten wo Kinder Harry Potter Bücher mit fetten 750 Seiten lesen, nehmen sich 400-Seiter für Erwachsene doch wie Schmalhans aus.
Ich nehme an, der gute Franz Schuh wollte auch ein wenig provozieren. Weder er noch ich noch sonst ein halbwegs denkfähiger Mensch fordert den 200-Seiten-Standardkrimi, was aber immer offensichtlicher wird, ist die Formlosigkeit von Kriminalliteratur, dieses Reinpacken, dieses Abschweifen, dieses Redundieren. Zufälligerweise (!) gibt es morgen eine Rezension zum Thema… Was mich stört, ist das Verbrechen als Nebenprodukt von irgendwelchem Psycho- oder Philosophie-Chichi, dieses banale Sichkonzentrieren auf „den Ermittler“ und seine Wehwehchen, dieses ständige Ausformulieren, explizit Hinweisen, Be- und Auswerten. Keine Frage: Es gibt dicke Krimis, bei denen auf keine Seite verzichtet werden kann, es gibt dünne Krimis, die es am besten gar nicht gäbe. Aber zum „Krimidesign“ (was nichts mit veränderten Genre-Regeln, sondern mit veränderten Marketing-Regeln zu tun hat)in der Wörtche’schen Diktion gehörende Monströse der nichts-, weil alles sagenden Schwarten fällt mir nur ein: abspecken! Oder: bleiben lassen!
bye
dpr