Sara Paretsky: Engel im Schacht

Die Chicagoer Privatdetektivin Vic Warshawski ist eine Ikone des modernen Kriminalromans: role model für Legionen mehr oder weniger abgekupferter Nachfolgerinnen und eher unfreiwillige Verursacherin des Modetrends „Frauen-Krimi“. All das wird man 2007 mehrfach in gesetzten Worten zu hören bekommen, denn Sara Paretsky, Warshawskis Schöpferin, wird 60.

Aber worin liegt, abseits vom Geschlechtlichen, der Reiz dieser Romane? Betrachten wir „Engel im Schacht“ von 1994, ein voluminöses Werk von knappen 540 Seiten, das jetzt seine Wiederveröffentlichung erfahren hat. Er beginnt tatsächlich wie ein „Frauenthema“: Vic entdeckt im Keller des Hochhauses, in dem sich ihr Büro befindet, die dort mit ihren drei kleinen Kindern vegetierende Tamar Hawkings, offensichtlich Opfer von häuslicher Gewalt. Vic möchte helfen, weiß aber nicht wie, dann ist die Familie untergetaucht, das Thema indes bleibt uns erhalten. Denn auch Deirdre Messinger, Frau eines Juraprofessors und das, was man eine „Charity Lady“ nennt, wird offensichtlich von ihrem Mann verprügelt, die Tochter gar, man ahnt es sogleich, auf andere Art malträtiert. Als Deirdre in Vics Büro ermordet aufgefunden wird (man hat sie totgeprügelt), kommt nur einer als Täter in Frage: Fabian, der Ehemann.

Wie sich die Detektivin nun in den Fall verbeißt, ist alles andere als souverän. Sie provoziert, irrt, handelt vorschnell und gesetzeswidrig (sehr zum Ärger von Conrad, ihrem Polizisten-Freund), bringt Menschen, die sie eigentlich liebt, in brenzlige Situationen. Sie ist also, einmal losgelassen, nicht zu bremsen, auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die sie immer tiefer zu Lüge und Unrecht führen.

Denn die Geschichte entwickelt sich wie eine Welle, die im eher Privaten entsteht und allmählich ein Meer aufwühlt. Prügelnde Ehemänner werden von korrupten Politikern, Bankern und Hilfsorganisationen abgelöst, diese wiederum vom Großen=Ganzen politischer Intrige – die Iran-Contra-Affaire lässt grüßen.

540 Seiten, wie gesagt. Mit zahlreichen Nebenfiguren, jungen Hackern und ältlichen Rentnern, eifersüchtigen Fast-Schwiegermüttern und illegalen rumänischen Bauarbeitern, mittendrin Vic Warshawski, der wir beim Denken, beim Abwägen, Verwerfen, Planen zuschauen dürfen und wie sie dabei die US-amerikanische Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes unterwandert, in die Abwässerkanäle vordringt, wo sich die Schwachen und Verängstigten verstecken.

Es ist eine klassisch zu nennende Dramaturgie. Vic arbeitet sich durch den Dreck ihres näheren Umfelds und findet sich im Dreck der Gesellschaft wieder. Sie bedient sich aller Elemente des Genres, changiert zwischen tragikomisch und hochmoralisch, eine Psychologin, die uns im nächsten Moment die taffe Actionfrau gibt, um dann wieder in den Zustand verwirrter Grübelei zu verfallen. Ein Mensch also, eine Frau, gewiss, doch wer diese Art von Roman „Frauenkrimi“ nennt, muss schon in einer sehr scheuklapprigen Welt zu Hause sein. Vic Warshawski ist Teil einer kriminalliterarischen Entwicklung, die ihre ProtagonistInnen und die Welt, in der sie leben, untrennbar aneinander ketten. Wer studieren will, wie man das Privatleben von Held / Heldin mit „dem Fall“ effektiv verzahnt, der lese Paretsky. Hier wird „Krimi“ nicht be-, sondern genutzt.

Sara Paretsky: Engel im Schacht. 
Goldmann 2007
(Original: „Tunnel Vision“, 1994, deutsch von Sonja Hauser).
539 Seiten, 8,95 Euro

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