Der Quellcode

(Ein erster, noch nicht überarbeiteter Versuch, Derek Raymond und den Noir-Roman in den Griff zu bekommen. Oder, besser: sich ihm zu nähern. Seien Sie wie ich auf das Endergebnis gespannt. Die Monografie „Derek Raymond – the Man in Noir“, von der wir noch gar nichts wissen, außer dass sie ab sofort →hier subskribiert werden kann.)

„Diese Dateien sind in einer symbolischen Sprache abgefaßt, und selbst wenn der Betrachter sie verstehen könnte, werden sie nie gezeigt. Die Maschine weiß, das es unnötig ist, sie zu zeigen, außer einem Experten, der für den Fall, daß die Maschine abstürzt, über einen eigenen Zugriff auf die versteckten Dateien verfügt. Wie der Computer wird auch die Leistung des Autors eher nach der letztlichen, sichtbaren Qualität seiner Produktion als nach den obskuren kryptischen Vorgängen beurteilt, die dazu beigetragen haben.“

Es ist ein auf den ersten Blick stimmiges Bild, mit dem Derek Raymond erklärt, wie seine Autobiografie „Die verdeckten Dateien“ („The hidden files“) von 1992 funktionieren soll. Die Bücher sind eine Art „grafische Benutzeroberfläche“, die es auch den mehr oder weniger Laien ermöglicht, mit einem Computer umzugehen. Es braucht wirklich nicht zu interessieren, welche versteckten Dateien (warum „verdeckte“?) des Betriebssystems es uns überhaupt erst ermöglichen, einen Mauszeiger zu bewegen, eine Datei mit Klick zu öffnen. Wir ahnen, nein, wir wissen, dass diese Dateien den Quellcode bereitstellen, das, was eine Programmiersprache in völlig logischer („rationaler“) Weise an Vokabular und Syntax bereitstellt, um von kundigen Menschen in ein in sich geschlossenes System von Objekten, Eigenschaften und Methoden verwandelt zu werden.

Der Selbstbiograf nimmt uns nun mit auf die Reise, jene versteckten Dateien zu erkunden. Das Programm, das diese Dateien konstituieren, ist er selbst. Er ist geschrieben worden, vom Leben, nehmen wir an, von dem Menschen, die ihn gezeugt, geboren, erzogen, geliebt, gehasst, verachtet, geschätzt haben. Der Mensch also ist das Betriebssystem – und die Benutzeroberfläche, das sind die Bücher, die dieser Mensch verfasst hat.

Sehr schnell wird deutlich, dass das so nicht stimmen kann. Was als „das Programm Mensch“ daherkommt, ist selbst nichts weiter als eine Oberfläche, die versucht, sich als Ergebnis einer logischen Abfolge von Funktionen zu definieren. Längere Zeit hält Raymond diese Strategie durch; er beschreibt, wie man es von einem Autobiografen erwarten kann, seine Kindheit, seine Jugend als das Setting des Schriftstellers, der ein „Noir“-Schriftsteller werden wird. Und folglich nicht haben kann, was man eine glückliche Kindheit nennt. Raymond setzt sich vor, nicht zu lügen, die Wahrheit zu sagen, aber er selbst weiß, dass das nicht klappen kann, dass er den Quellcode seiner Noir-Existenz lediglich aus den sichtbaren Funktionen der Benutzeroberfläche rekonstruiert.

Das kann jeder halbwegs versierte Programmierer. Er weiß, wie die Bilder auf den Bildschirm kommen, wie man Schriftarten und –farben bestimmt, auf welche Bibliotheken bei welcher Aktivität des Anwenders zugegriffen wird. Was er in der Regel aber nicht weiß, ist, wie das alles zusammenhängt. Theoretisch schon, aber er müsste Zeile für Zeile des Quellcodes studieren, um die Zusammenhänge zu erkennen.

Und noch etwas: Die wichtigste Aufgabe beim Programmieren ist (neben der unvermeidlichen Fehlersuche) die Gewährleistung der Stabilität. Der Programmierer muss sich in die Anwender hineinversetzen und herausfinden, welche – völlig unlogische! – Aktion dieses Anwenders eine Funktion aktiviert, die das Programm kollabieren lassen kann. Und diese Gefahr besteht immer. Ein Beispiel aus der großen aufregenden Welt der Multimedia-Programmierung: Beim Starten der Anwendung sollen von einer online-Datenbank Grafiken in das Programm geladen werden. Die Namen der Grafiken erscheinen, sobald sie vollständig geladen sind, in einer Liste, können durch Anklicken aktiviert werden, auf dass die gewählte Grafik in einem separaten Fenster erscheint.

Die Logik sagt mir, dass der Anwender erst dann auf diese Liste klickt, wenn sie tatsächlich mit den Namen der Objekte erschienen ist. Er wird nicht auf die leere Liste klicken – aber genau das wird er tun. Er aktiviert den Befehl „Lade Bild X in das separate Fenster“, das Dumme: Es gibt kein Bild X. Es wird eine leere Zeichenfolge „“ übertragen, eine Fehlermeldung erscheint: „Bitte warten Sie, bis die Namen der Bilder in der Liste erschienen sind, bevor Sie eines auswählen!“. So sollte es sein. Dafür hat der Programmierer zu sorgen, denn tut er es nicht, produziert die Anwendung einen Fehler und kollabiert (zumal dann, wenn die Aktion einen ganzen Rattenschwanz weiterer Anweisungen nach sich zieht, die nicht ausgeführt werden können).

Zurück zu Raymond und dem Bild, in dem er sein Leben als eine Kombination von Dateien, also ein Programm beschreibt. Er rekonstruiert seine Kindheit, seine Jugend, entwickelt ein Programm, das uns den Noir-Autor per Klick generiert. Dieses fremdelnde Kind im lieblosen Elternhaus, draußen tobt der Zweite Weltkrieg, das marode England der Upper Middleclass zeigt seine Folterinstrumente. Es ist eine Welt ohne Hoffnung, eine Welt in Ketten, das Kind, der Junge mittendrin. Das ist alles sehr logisch. Wir wissen sofort, was aus diesem Kind werden wird, und wie wir fortan die düsteren Werke des Mannes, der aus diesem Kind einmal werden wird, zu lesen haben. Und dann passiert es: Derek Raymond verhält sich nicht programmgemäß. Er ist ein schlechter Anwender, nein, er wurde das Opfer eines nachlässigen Programmierers. Die Anwendung Leben kollabiert.

„Hidden Files“ entstand im Anschluss an „I was Dora Suarez“, jenem Werk, das für den Kollaps verantwortlich war. Raymond erkennt, dass das, was er für das Betriebssystem gehalten hat, nur die Benutzeroberfläche ist. Und er handelt. Hat er bisher sein Leben einigermaßen chrono-logisch erzählt, so wird es jetzt disparat und anekdotisch. Etwas anderes gerät in den Blick, das wahre Betriebssystem: die Literatur.

Die Noir-Literatur. Sie ist für Raymond nicht einfach ein „Subgenre“ des Krimis, nein, sie soll die Kriminalliteratur ersetzen („Um genau zu sein, ist der Noir-Roman nicht die Rettung der Kriminalliteratur, sondern tritt an ihre Stelle.“) Ihr Spektrum beginnt mit der Bibel, umfasst, natürlich, Shakespeare und auch Camus, Sartre. Sie zeichnet die Welt als Dreck, aber sie tut es, um diesen Dreck zu beseitigen. Hat sie dies erreicht, kommen „die versteckten Dateien“ zum Vorschein: das Leben selbst in all seiner Funktionalität.

Der (längere) zweite Teil von „Hidden Files“ ist ein einziges Herumdefinieren am Begriff des „Noir“. Viele der Gedanken sind in ihrer Essenz nicht überraschend. Es geht um den Tod, das Verbrechen, die Zukurzgekommenen, den Zynismus, die Machtgeilheit und immer wieder: die Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die Wirklichkeit. Ein Aspekt jedoch, den Raymond bringt, verwirrt uns: „Der Noir-Roman befaßt sich nicht bloß mit der Metaphysik, sondern ist ein Teil der Metaphysik.“

Das hat nichts mit Religion zu tun. „Metaphysik“ bedeutet bei Raymond immer „über die Logik, die Ratio hinaus“, und auch das passt in das Bild von den „versteckten Dateien“, auf deren Suche er sich begeben hat. Was er vorzufinden hofft, hat nichts mehr mit der beherrschbaren Materie des Programmierens zu tun (die, nebenbei, nicht immer so logisch ist, wie sie vorgibt zu sein). „I was Dora Suarez“, das Werk, das Raymonds Vorstellung von Oberflächen und darunter arbeitenden Funktionen erschüttert, auf den Kopf gestellt hat, ist ein logischer Abgesang auf die Logik. Nicht nur die Logik des Kriminalromans, die in ihrer Banalität zumeist mehr als billig ist, sondern auch und vor allem auf die Logik der Wirklichkeit und der Existenz.

Oder anders: Als Derek Raymond „I was Dora Suarez“ schrieb, benahm er sich wie ein Anwender, der auf eine leere Liste klickt, um ein Bild zu laden. Er hat eine leere Zeichenfolge übergeben, etwas, das keinen Sinn macht, nicht logisch ist. Und er hat damit die versteckten Dateien dazu gebracht, sich für einen Moment in ihrer Unvollkommenheit und Unlogik zu offenbaren.

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