Diebsgesindel

Die Geschichte der Literatur ist die Geschichte der Urheberrechtsverletzungen. Ein Krimi ohne Täterfrage, denn Täter sind wir alle ausnahmslos. Keine Widerrede! Ja, auch SIE sind schuldig, SIE verstoßen permanent gegen das Urheberrecht, SIE sind ein Schwarzleser oder, noch schlimmer, ein brutaler Zuhälter wehrloser geistiger Ergüsse!

Ein Buch ist kein Stuhl. Kaufe ich einen Stuhl, werde ich durch die Bezahlung des Kaufpreises sowohl dessen Besitzer als auch dessen Eigentümer, was ein Unterschied ist, aber dies nur nebenbei. Bei einem Buch werde ich das auch, allerdings nur für den Gegenstand Buch. Das Recht an der schöpferischen Leistung und daran, wer in ihren Genuss kommt, verbleibt beim Autor. Als Käufer ist es mir erlaubt, das Buch zu lesen, doch sobald es weitergeben wird, kollidiert sein Recht am Objekt Buch mit dem Recht des Schöpfers am qua Buch transportierten geistigen Substrat.

Genau das tun wir aber. Ich kaufe ein Buch, lese es und verleihe es an meinen Schwager, der es ebenfalls liest und dann an seine Arbeitskollegin weiterreicht, die es wiederum ihrem halbwüchsigen Sohn anempfiehlt, der just eine „Buchvorstellung“ für die Schule zusammenmurksen muss… Am Ende ist das Buch, sagen wir, zehnmal gelesen worden, aber nur einmal bezahlt. So etwas nennt man geistigen Diebstahl, Schmarotzertum, geizgeile Schnäppchensucht.

Einwand: Ich habe als Buchbesitzer ja nichts daran verdient. Mag zutreffen. Aber ich könnte das Buch jederzeit im Modernen Antiquariat oder auf dem Flohmarkt anbieten, dort also, wo gewerbsmäßige Hehler ihr Unwesen treiben. Außerdem: Ein Verbrechen wird nicht erst dann zum Verbrechen, wenn es zum Zwecke materieller Vorteilsnahme verübt wird. Wer gegen den Willen des Inhabers geistiger Rechte diese anderen zugänglich macht, wird zum Rechtsbrecher, der sich auch nicht mit Ausflüchten wie „War doch eine soziale Tat“ herausreden kann.

Es liegt auf der Hand, dass die Erfindung des E-Books die Praxis des Rechtemissbrauchs durch Weitergabe von Büchern noch dramatisch zuspitzen wird. Das bislang als dingliches Objekt zirkulierende Buch wird zur mühelos zu klonenden digitalen Ware, aus 9 Schmarotzern werden 999, der Schaden steigert sich ins Unermessliche. Wie dem Einhalt gebieten?

Es gibt nur eine Lösung: kontrolliertes, strengstens überwachtes Lesen. Sobald ein Buch gekauft wird, darf es vom Käufer nur in geschlossenen Räumen gelesen werden. Er darf es nicht aus diesem Raum verbringen, der quasi der Rechtsraum für das geistige Eigentum ist. Solche Lesezimmer könnten beispielsweise in Buchhandlungen oder aufgegebenen Grundschulen eingerichtet werden, sie senden zudem einen interessanten Beschäftigungsimpuls, weil zum Beispiel die entlassenen 12000 Schlecker-Mitarbeiterinnen nach kurzer Schulung als Leseüberwachungskräfte einsetzbar wären. Die Kosten trägt der Buchkonsument durch eine moderate Erhöhung des Ladenpreises. Nach der Lektüre wird das Buch wieder sicher innerhalb des Raumes im Regal aufbewahrt, das Besuchsrecht seines Käufers bleibt unbegrenzt.

Man mag über diesen Vorschlag lachen, doch was wäre die Alternative? Ausgabe eines amtlich beglaubigten, mit einem Lichtbild versehenen Ausweises für jedes erworbene Buch, der ständig zu kontrollieren ist, nicht nur in öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch im privaten Rückzugsraum durch unangekündigte Razzien? Entschuldigung, aber das ist Orwell hoch drei, dafür sind noch nicht einmal die Freien Liberalen.

Eine Schwachstelle gibt es noch. Das Urheberrecht umfasst nicht nur die quasi im Originalzustand vorliegende geistige Leistung, sondern auch ihre oral vervielfältigte Paraphrase. Auf Deutsch: Es gibt Leute, die lesen ein Buch und erzählen einem danach, zumeist unaufgefordert, seinen Inhalt – und zwar in allen Details, brühwarm sozusagen. Erschwerend kommt hinzu, dass der geistige Gehalt nicht nur kostenfrei zugänglich gemacht wird. Nein, er wird durch den Akt der mündlichen Wiedergabe in der Regel auch noch verfälscht. Der Mörder in Dieter Paul Rudolphs „Der Bote“ ist nicht, wie allenthalben zu hören, der Bote. Es handelt sich auch nicht um „so ein Buch, wo der Mörder an Computern rumschraubt“. Kurz: Die Rechteverletzung ist hier gleich eine zweifache. Wie dem begegnen?

Ablenkung. Nach dem Besuch eines Lesezimmers ist eine Art Amnesieschleuse zu durchlaufen, die das soeben Gelesene aus dem Gedächtnis tilgt und folglich für illegale Nacherzählung unbrauchbar macht. Man könnte etwa eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung als Pflichtpensum andenken. Auch die Lektüre gemeinfreier Literatur böte sich an. Sie lesen eine Stunde Rudolph und danach vier Stunden Goethes „Wahlverwandtschaften“ – und Sie haben Rudolph vollständig vergessen, das garantiere ich Ihnen.

Ein Gedanke zu „Diebsgesindel“

  1. Schlimmer noch sind die, die dann unlizensiert die Geschichte aus dem Buch herumerzählen.
    Sie sind weder autorisiert noch haben sie REchte erworben…

    Daher nicht nur streng kontrolliertes Lesen, sondern auch strenge Kontrolle des Redens ist dringend nötig!

    und die, die unerlaubt Elemente aus dem Buch selbst verarbeiten, und Geschichten daraus machen, die sind die SChlimmsten.
    Sofort sanktionieren! hart!
    Was sonst!

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