Christine Lehmann: Totensteige

lehmann.jpg Vorweg: Das ist kein Roman über die Finanzkrise, das Eurorettungskarussell oder einen zu lockeren Bundespräsidenten, der waidgerecht zur Strecke gebracht wird. Und weil er das nicht ist, ist er genau das: Ein Roman über den Mechanismus, der solchen Dingen innewohnt, sie antreibt, manchmal erst erschafft. Sagen wir also: Christine Lehmanns „Totensteige“ ist ein fundamentaler Roman, in einigem sogar ein fundamentalistischer, der keine literarische Ideologie neben der kriminalliterarischen duldet. Und diese Ideologie zugleich gnadenlos vorführt. 537 Seiten lang.

Es geht um Aberglauben und Manipulation. Irgendwie ist Schwabenreporterin Lisa Nerz an die Tischrücker und Geisterseher geraten. Bei ihren weiteren Recherchen stößt sie auf ein parapsychologisches Institut, lernt Derya, die aparte Doktorin kennen und leider auch den Chef des Ganzen, den aber im toten, ausgeweideten Zustand. Wohl ist der Täter, ein Mann namens Juri Katzenjacob, schnell ermittelt, doch damit beginnen die Verwicklungen erst. Dass dieser Katzenjacob als Maler und Anstreicher arbeitet und aus Rumänien stammt, wo ja auch die Untoten herkommen, das verweist schon auf das heillos augenzwinkernde Spiel, das Lehmann inszeniert. Katzenjacob entwickelt sich nämlich im Verlauf der Handlung zum globalen Dämon, zum Parapsychohitler, aber davon ahnen zu diesem Zeitpunkt weder Lisa Nerz noch die Leser etwas.

Jedenfalls bildet sich schließlich ein Viererteam aus Nerz, ihrem Staatsanwaltlover Richard Weber, Derja und dem schottischen „Geisterjäger“ Finley McPierson, das sich daran macht, den Mord und seine Hintergründe aufzuklären. Noch ist die Geschichte eine Art Normkrimi mit notorisch gut recherchierten Fakten zum Übersinnlichen. Das ändert sich aber, als die Vier einen Beinahe-Flugzeugabsturz überleben, ebenso einen unterirdischen Hinterhalt und schließlich auf einer kleinen schottischen Insel voll ins Visier der Medien und Mythen gelangen. Sie werden abwechselnd für tot erklärt oder zu Terroristen hochgeschrieben, alle Welt beginnt sich vor ihnen zu fürchten. Und mit der Welt so langsam auch der Leser. Was ist denn das für ein unlogischer Krimi?

Dabei tut Lehmann etwas Naheliegendes. Sie klaubt sich ein paar Versatzstücke des Genres heraus und überhöht sie bis ins Grotesk-Klamottige (ein Staatsanwalt im Kilt etc.). Jetzt rasten die Mechanismen des Genretrashs in den Mechanismus der Welt ein, Aberglaube verbindet sich mit Logik, Wahrheit ist Manipulation, das nüchterne Sein entsteht im medialen Schein. Ein neuer Bösewicht taucht auf, der Zeitungstycoon Oiger Groschenkamp (schöne Namen hat sich Frau Lehmann da ausgedacht), er bildet Meinungen, er schafft Fakten, versetzt die Welt in Panik und beruhigt sie abwechselnd, profitiert von beidem. Jetzt sind wir dort, wo uns Lehmann haben will: In einem furchtbaren Groschenkrimi namens Wirklichkeit, siehe Finanzkrise, siehe Euro, siehe den ganzen Rest, den wir nicht verstehen, also aber glauben.

Doch genug der Handlung. Die wird immer turbulenter, die Lage spitzt sich zu, die Welt steht kopf. Lisa Nerz erleidet den „soziokulturellen Tod“ (ein Schlüsselbegriff des Romans), ihre Beziehung zu Weber zerbricht, Merkel, Obama, Sarkozy dürfen mitspielen und der Papst erhält gar eine tragende Rolle. Aber längst befinden wir uns im Maschinenraum der Handlung, dort wo wie gesagt Aberglaube und Manipulation Glauben und Wahrhaftigkeit produzieren. Je grotesker die Handlung desto realistischer die Weltbeschreibung. Kennen wir doch irgendwo her?

Genau. Von Fred Vargas, deren „Die Nacht des Zorns“ fast zeitlich in deutscher Übersetzung erschienen ist, ein ähnlich dickes Teil, das mag man für Zufall halten oder von übersinnlichen Kräften gesteuert, sei’s drum. Beide Autorinnen jedenfalls nehmen die übernatürlichen Dinge, über die sie schreiben, ernst, sie lassen sich auf das Irrationale als ein strukturierendes Elemente des Rationalen ein, auf die soziokulturelle Vernichtung, auf das Affenrad, das da im Hintergrund gedreht wird. Der Oiger Groschenkamps sind viele, sogar in der Krimikritik und anderen Kloakengewerben, sagt man jedenfalls. Sie machen mit uns was sie wollen, wir machen sie, weil sie das wollen. Dies zu beschreiben, hat Christine Lehmann einen grotesken Krimi verfasst, um das zu erden, was allzu abgehoben schwebt. Schön so etwas.

Christine Lehmann: Totensteige. 
Argument / Ariadne Krimi 2012. 537 Seiten. 12,90 €

Ein Gedanke zu „Christine Lehmann: Totensteige“

  1. Was für eine wunderbare Rezension! Da lacht das Herz, und die Verlegerin stellt entzückt fest, dass sie vom Kritiker noch lernen kann.

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