Wie alles anfängt und so manches endet

Ach, im Moment hab ich wenig Zeit, mir über Krimis Gedanken zu machen, im Moment schreib ich selber einen. Und damit ihr schon mal wisst, wie alles anfängt, hier der Anfang, was sonst. Es ist die Fortsetzung der „Armen Leute“, aber den Titel sag ich noch nicht. Es ist auch nicht der nächste Krimi, der erscheinen wird, denn der ist schon längst fertig und ihr habt gar nichts davon mitbekommen. Hier also:

Das hatten wir nicht gewollt. So war das nicht gedacht. Ruhig wollten wir sein, ruhig wie die Kinohelden, cool eben, richtige Profis. Aber es kam anders. Schon dass die Flaschen in den Stoffbeuteln klirrten und dieses Klirren ins Tal brüllte, als wir den Berg hinabstiegen: „Mensch, passt doch auf!“ Wir: eine Herde Mensch mit Stofftaschen. „Zurück!“ Zuhause: „Wir gehen einzeln im Abstand von drei Minuten! Da fahren doch noch Autos! Da laufen doch noch Leute rum! Wie sieht das aus, wenn wir…“
Also einer nach dem andern. Und, der professionelle Clou, auf verschiedenen Wegen! Drei, genau. Und weil der eine Weg länger ist als der andere und einige von uns schneller laufen als andere, stießen wir am Ziel, aus drei Richtungen kommend, beinahe zusammen. „Los! Rasch! Jetzt ist das eh wurscht! In den Hinterhof!“
Nebenan in der Weinstube feierte Oma Kiesling ihren Achtzigsten. Zweiundzwanzig Uhr, die Gäste abgefüllt mit Hauswein und der kotzigen Akustik lustiger Buam. Guuuuut. Keiner würde hören, wenn im Hinterhof von BAC – Billig-Anzieh-Center – kleine Füße übern Beton trippeln und eine Fensterscheibe eingeschlagen wird. Mensch, das ging so einfach! Das Fenster eher so’ne Schiffsluke, verdammt eng, aber wir sind ja halbe Hemden, nicht? Nur die Glasscherben sorgfältig entfernen und schon flutschen wir ins Innere des Ladens, einer von uns bleibt draußen als Wache, weil er zu breit ist für die Luke.
Überall stehen Kisten. Muss das Lager sein. Und Ständer – pass auf, wirf nichts um! – mit dem Dreckszeug. Und das wars dann wohl. Dass einer dachte: „Dreckszeug!“. Und mit dem Fuß gegen eine Kiste trat oder einen Fetzen von einem Ständer riss, weil die Sachen da so gespenstisch hingen im Licht unserer Taschenlampe, diese bunten Scheißklamotten, rotbraungeldbeigeweißschwarzlilakunterbunt, weil wir all den Mist darauf zu lesen bekamen, Harvard University, Happy Holidays, Nightrider, Joy Clothes oder Youtharmy, und da dachten wir plötzlich alle „Dreckszeug!“ und einer sagte „Dreckszeug!“, und uns war egal, wie laut er das sagte, wie kräftig gegen die Kisten getreten wurde, bis die durchs Kabuff rutschten, und drüben von der Weinstube her dröhnte es auch noch „Ich lieb dich und du liebst mich, sonst ist gar nichts mehr wich-tisch“, und einer von uns reißt jetzt was Grellgrünes vom Ständer, fragt „Weißt du, wieviel Weichmacher, wieviel Pestizide da drin sind?“ und ein anderer gibt keine Antwort, denn wir kennen die Antwort, zwar nicht genau, aber wir kennen sie, sondern er sagt: „Und unsereins verreckt da dran!“ Und wieder ein anderer sagt gar nichts, hat aber ein Feuerzeug aus der Tasche geholt und die Flamme springt aus dem Plastik und wird an dieses grellgrüne Gift gehalten und zack beginnt es auch schon zu brennen, war klar, alles Dreck, alles künstlich, alles todbringend – wirf das ganz schnell weg jetzt, sonst verbrennst du dir die Finger! – aber das musste man dem nicht sagen. Der schleuderte den brennenden Fetzen irgendwo hin, auf eine der Kisten, und längst hatten wir anderen ebenfalls Shirts und Hosen und Pullover von den Stangen gerissen, dem einen, lodernden Stoff hinterhergeworfen, geflucht dabei, so laut, dass die Wache von draußen ein „Seid um Himmelswillen leiser!“ in den Raum hineinzischte, aber zu spät, es brannte prächtig und wärmte unsere Herzen und schließlich brannten die Kisten und wir standen dabei und dachten uns: Auch gut.
Eigentlich wollten wir nur die Flaschen ausleeren. Nach vorne in den Laden gehen, alle Klamotten auf einen Haufen und die Flaschen mit unserer gesammelten Pisse drüber. Aber verbrennen – noch besser. Bloß: Was machen wir jetzt mit der Pisse? War’n ziemliches Stück Arbeit und alles andere als angenehm. „Lass einfach stehen!“ rät einer, nur: „Das is doch wie’n genetischer Fingerabdruck!“ Also nehmen wir sie wieder mit und schütten sie zu Hause ins Klo, aber zuhause werden wir feststellen, dass wir eine Flasche hier unten vergessen haben.
„Die Leute in der Weinstube!“ rief jetzt einer, da waren schon zwei von uns durch das Fensterchen wieder nach draußen geklettert, husteten, der ganze Qualm halt, der sich mit uns durch das Fensterchen zwängte. Na und? Die Leute in der Weinstube. Die werden schon merken, wenn es brennt. Die werden schon kreischend ins Freie rennen, die Oma Kiesling mit ihren achtzig Jahren ist noch rüstig, die siehst du immer mit ihrem Schiebewägelchen einkaufen gehen, diesem Rollator oder wie der heißt. Okay. Rauchvergiftung. Aber sollen sie doch den ganzen Qualm einatmen, bis ihnen das Kotzen kommt! Solls doch Krebs erregen und die roten Blutkörperchen richtig schön und schnell kaputtmachen, wie sie die Blutkörperchen der Kinder kaputtgemacht haben, die all den Dreck, diesen fürchterlichen Dreck haben herstellen müssen. Und du siehst die Bilder, kannst gar nichts dagegen machen. Die Kinder in den Färbereien, bleiche, schwitzende, erschöpfte Kinder, und die Kinder an den Nähmaschinen und die Kinder in ihren Unterkünften, die nachts abgeschlossen werden, damit keiner abhaut, und dann brennt es dort und hundert Kinder verbrennen und es juckt keine Sau, aber wenn das T-Shirt nicht mehr 4,95 kostet, sondern vielleicht 6,95, dann jammern sie unisono „Preiserhöhung!“ und quatschen von Inflation und Lebensstandard und zetern über den Sozialstaat, und dann könnte man ihnen auf die Fresse… ach was, auf die Fresse! – dann könnte man sie selber abfackeln, dann kriegst du plötzlich Mordgelüste, und wenn sie halt jetzt „Rauchvergiftung“ kriegen – na und? Wunderbar! Selber schuld!
Wir sind alle draußen, die Taschentücher vor Nase und Mund wie Banditenmasken. Irgendwelche Zeugen? Nee. Ein Blick auf das Schaufenster, hinter dem das Feuer tanzt. Ein Blick auf die Weinstube, die – es ist Oktober und kalt – kein Fenster offenstehen hat, aber der Qualm wird schon seinen Weg finden. Ob wir die Feuerwehr anrufen sollen? Nö. Jo. Nö. Nö. Jo. Ach was. Drei zu zwei dagegen, demokratisch, komm, jetzt aber weg von hier. Wir rennen die Straße hoch. Nicht rennen! Mensch, bloß nicht rennen! Langsam gehen! Lachen! Schäkern! Wir sind jung! Wir sind unbekümmert! Wir haben geknutscht und Petting gemacht und jetzt gehen wir heim zur Selbstbefriedigung. Also: ganz langsam. Um die Kurve. Ausatmen. Vorbei. Wir glauben die ersten Schreie zu hören.

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