Nach „Timeless“ aus dem Jahr 1995 veröffentlicht der Engländer Goldie mit „saturnzreturn“ sein zweites Album. Als Doppel-CD mit einer Laufzeit von insgesamt zweieinhalb Stunden und unter Mitwirkung vieler prominenter Künstler ist die Platte ein Mammutwerk geworden. Ob sie von der Musik-Öffentlichkeit als ein bahnbrechendes Werk eingestuft wird, bleibt noch abzuwarten.
„Hinter-Net!“ ist jedenfalls der Meinung, daß „saturnzreturn“ ein herausragendes und ungewöhnliches Album ist und verschreibt ihm eine Sonderbehandlung. Eine chronologische Abhandlung von unserem Sturmduo Carsten Frank und Kai Martin.
CD 1 (Länge: 75′ 15“)
Track 1: mother (Länge: 60′ 14“)
K: Die Mutter aller Lieder, zumindest auf diesem Album. Vielleicht sogar in einem größeren Rahmen.
C: Beginnt mit siebenminütigem Rauschen und tibetanischen Gebetsschellen. Danach setzen die Keyboards bzw. die Streicher ein und es klingt wie bei „Inner City Life“ (ein Titel der ersten Goldie-CD „Timeless“). Aber hier setzen die Beats erst nach 21 Minuten ein, vorher spielt sich etwas ab, was mich an keltische oder gregorianische Gesänge erinnert. Vielleicht könnte man auch sagen, das ist neo-moderne E-Musik nach dem zwölften Ton. Für mich ist das typisch britisch, das kann keiner, der aus Deutschland oder den USA kommt. Aber es hat Gott sei Dank überhaupt nichts mit den Beatles oder den Folgen zu tun.
K: Wunderbar formuliert! Das mit der E-Musik ist vollkommen korrekt, dieses Stück hat eine ganz andere Vision als das, was sich im weitesten Sinne auf dem Pop-Sektor abspielt. Dahinter steckt ein wirklich großer Entwurf, größer auch als die Beatles. Aber mich erinnern Melodien und vor allem der Klang der Streicher an indische bzw. fernöstliche Musik.
C: Kaum setzen die Beats ein, gehen sie auch schon in den großen Zeh. Mindestens.
K: Dabei zischelt am Anfang nur ein Becken, das ist noch gar kein komplettes Drum-Set.
C: Nach und nach kommen die einzelnen Elemente hinzu, so kommt die Klimax zustande. Man kann kaum noch sagen, auf wievielen Ebenen da etwas passiert. Die Spannung ergibt sich aus der Zahl der verschiedenen Elemente, die mit eingebaut werden. Man hat den Eindruck, auf den einzelnen Ebenen bleibt alles unabhängig vom Geschehen drumherum. Aber die Kombination der Einzelteile schafft ein homogenes Ganzes.
K: Nach einer halben Stunde kann man eigentlich zum ersten Mal von Drum’n’Bass sprechen. Dann klingt das Stück nach klassischem neuen Dancefloor: Die Beats im Vordergrund, der Bass gibt Struktur und im Hintergrund blubbert und wabert es in der Geräusche- und Effekteküche. Aber das bleibt ja nicht lange so. Nach acht Minuten ist schon wieder Schluß. Dann sind wir wieder bei diesen sphärischen, flächigen Klängen angelangt.
C: Wo es dann sehr stark nach Filmmusik klingt.
K: Ja, absolut.
C: Erinnert mich den Score aus „Léon, der Profi“. Wer hat den eigentlich komponiert?
K: Keine Ahnung. Aber kommt Dir diese Atmosphäre nicht auch sehr hippiesk vor?
C: Nein, überhaupt nicht. Was meinst Du eigentlich damit?
K: Ich meine nicht die Blumenkinder-68er-Woodstock-Ära, sondern die Musik der frühen Siebziger: Der Versuch, alles zu integrieren: Zeitgenössische Klänge, Streicher, Indien, Drogen, alles wird bewußtseinserweiternd in endlos lange Stücke gepackt … nicht, daß Du mich falsch verstehst: Ich mag dieses Stück, aber immer muß ich an diesen Hipppie-Kram denken. Die Assoziation ist da, aber Gott sei Dank nicht prägend für die Einschätzung.
C: Bei Hippie-Musik fällt mir immer „Pink Floyd in Pompeji“ ein. Und das geht mir auf die Nervern, während ich Goldie klasse finde. Was mich an Pink Floyd oder auch Led Zeppelin richtig nervt, ist, daß die 45 Minuten lang ihre Snare-Drum streicheln.
K: Wem sagst Du das …
C: Bei „mother“ streicheln nur die Streicher ihre Instrumente, und so sollte es sein. Außerdem wirkt die Siebziger-Musik auf mich immer sehr aufgesetzt. Und auch das ist hier nicht der Fall.
K: Aber vielleicht werden die Leute in zehn Jahren sagen, daß Goldie aufgesetzt wirkt. Für uns heute ist es etwas anderes, weil der Sound up-to-date ist: Er ist das Zeitgemäße, er transportiert die Einordnung in einen Kontext, nämlich den der späten Neunziger.
C: Kann es sein, daß „mother“ symmetrisch aufgebaut ist? Erst Geräusche, dann Streicher und Keyboards, Steigerung bis zum Mittelteil, der die Beats hat und dann denselben Weg zurück?
K: Sehr gute Beobachtung. Betrachtet man die Zeitaufteilung innerhalb der 60 Minuten, ist es nicht ganz symmetrisch, aber im Grunde hast Du recht.
· Track 2: truth (Länge: 14′ 57“)
K: Dieser Track hat zwei eindeutig voneinander abgesetze Teile. Am Anfang der Gesangspart von David Bowie, dann ist plötzlich Ruhe, man denkt schon, es sei zu Ende und dann der zweite, instrumentale Teil.
C: Es ist ein schönes experimentelles Stück. Bowies Stimme und die Keyboardklänge harmonieren sehr gut, aber insgesamt gesehen ist es nicht sehr spannend. Es passiert zu wenig. Im zweiten Abschnitt, nach der Pause von über einer Minute, ist in den ersten Sekunden schon mehr los als im ersten Teil.
K: Findest Du, daß David Bowie nach David Bowie klingt?
C: Absolut. Man erkennt ihn sofort.
K: Ich hab‘ etwas länger gebraucht. Aber ich bin auch kein Bowie-Fachmann. Mir fällt nur auf, daß er sehr zurückgenommen klingt. Nicht das übliche Breitwandformat, was ich sehr angenehm finde. Wenn wir vor allem den zweiten Teil betrachten: Können wir sagen, daß „truth“ das experimentellste Stück der Doppel-CD ist?
C: Ich denke schon. Aber es gibt auch auf der zweiten CD einige Stellen, wo Goldie bis an die Grenzen geht.
K: Allerdings erinnert mich auf dem gesamten Album keine Passage so sehr an freien Jazz wie das Ende von „truth“. Es gibt keine Beats, kaum Melodien, keine Struktur. Nur Klang.
CD 2 (Länge: 75′ 20“)
· Track 1: temper temper (Länge: 5′ 13“)
K: Gitarre kommt von Noel Gallagher, aber Gott sei Dank klingt es nicht nach Oasis. Manche sagen ja, das klingt sehr nach den Chemical Brothers. Siehst Du das auch so?
C: Der Gitarrensound ist ähnlich, aber es ist ein ganz anderer Song. Ich denke nicht, daß es ein Rip-off ist. Auf „saturnzreturn“ ist es jedenfalls eindeutig das Metal-Stück.
K: Aber immer noch ziemlich abstrakt.
· Track 2: digital (Länge: 5′ 53“)
C: Der Anfang könnte auch von Ice-T sein.
K: Das ist das Stück mit KRS-One. Gefällt mir nicht so gut. Im Gegensatz zur Zusammenarbeit mit Bowie wirkt Goldie hier wie ein Gastmusiker. KRS-One rappt wie immer.
C: Verglichen mit anderen Drum’n’Bass-Stücken ist die Stimme extrem hochgezogen, sie ist lauter. Das Stück hat keinen Goldie-Charakter.
K: Das denke ich auch. KRS-One prägt den Titel sehr und ich war noch nie ein großer Fan von ihm. Trotzdem ist es okay.
· Track 3: i’ll be there for you (Länge: 6′ 56“)
C: Dieses Stück klingt so, wie ich es im Vorfeld vom ganzen Album erwartet hätte.
K: Sehr abstrakter Drum’n’Bass. Sehe ich genauso.
C: Hat mehr Drums als Bass. Was im übrigen für die ganze Platte gilt. Und dieses Geräusch in der Mitte klingt wie unsere Wohnungsklingel.
K: Das irritiert mich auch. Es ist wie ein Appell etwas zu tun, Türen zu öffnen oder Telefone abzuheben.
· Track 4: believe (Länge: 7′ 08“)
C: Schönes Pop-Lüftchen. Ein Song für Sade.
K: Mich erinnert das an „Material“ aus den frühen Achtzigern. Dieses Stück enttäuscht mich sehr, nicht weil ich den Sound nicht mag, sondern weil es nichts Innovatives hat. Vielleicht sollte man das nicht immer von einem Künstler verlangen, aber gerade bei Goldie hätte ich eine solch 100prozentige Retro-Kiste nicht erwartet.
C: Der Beat ist superlangweilig. Den könntest du auch bei Rondo Veneziano drunterlegen.
K: So schlimm?
· Track 5: dragonfly (Länge: 16′ 02“)
C: Vielleicht der einzige Take auf „saturnzreturn“, der einigermaßen fröhlich klingt. Vor allem die Gitarre und das Vogelgezwitscher sind dafür verantwortlich.
K: Wenn ich mir die Breakbeats wegdenke, bleibt Siebziger-Jahre-Jazzrock übrig. Klassische Fusionmusik. Mich erschrickt das. Nur die Beats halten dieses Stück in der Gegenwart.
C: Mich wundert, daß ich diesen Gitarrensound mag. Normalerweise wäre mir der zu klar.
K: Wie beim Stück zuvor könnte man auch diesen Titel ohne größere Probleme mit der Plattensammlung meines Cousins nachstellen. Soll heißen: Wo sind die eigenen Elemente, wo geht Goldie über bereits Dagewesenes hinaus? Ich denke, es ist nötig, zumindest einen eigenen Zugang zu klassischen Formen zu haben. Einfach Kopieren oder Zitieren reicht nicht.
C: Meiner Meinung nach werden diesen Elemente nur angedeutet. Goldie ist weit genug entfernt von den klassischen Mustern, die Du erwähnst. Mich irritiert vielmehr, daß über die zweite CD hinweg so viele verschiedene Stile und Elemente angerissen werden. Das schafft keine durchgängige Stimmung, wie es auf der ersten CD noch der Fall war.
· Track 6: chico – death of a rockstar (Länge: 7′ 11“)
K: Drum’n’Bass mit flirrenden Feedback-Gitarren. Zumindest am Anfang.
C: Auch das habe ich so erwartet. Die Beats sind nicht neu, die hat Goldie auch schon länger im Repertoire. Richtig spannend ist dieser Take nicht.
K: Die zweite CD wechselt ständig von modernen Drum’n’Bass-Stücken zu Zitaten der Musikgeschichte und wieder zurück. Eigenständiges und Geklautes wechseln sich ab. In diesem Kontext kann man auch das KRS-One-Stück als retro bezeichnen. Ich wiederhole mich, aber ich hätte gern mehr Innovation.
· Track 7: letter of fate (Länge: 7′ 54“)
K: Wer singt da?
C: Goldie selbst.
K: Echt?
C: Was die Technik so alles möglich macht.
K: Wie findest Du das?
C: Etwas ermüdend. So wie den Anfang von „truth“ mit David Bowie.
K: Mir gefällt das. Schöne Atmosphäre. Ein Stück ohne Beat, ohne daß es gleich nach Meditation oder Naturimpressionen klingt.
· Track 8: fury – the origin (Länge: 6′ 29“)
C: Auch hier wendet Goldie wieder das Prinzip aus „mother“ an: Viele einzelne Elemente werden zusammengesetzt zu einem Ganzen, wobei auch Melodiesegmente Teil des Beats werden, indem sie wie rhythmische Elemente behandelt werden.
K: Dieser Track klingt extrem unterkühlt, hat eine düstere Ausstrahlung. Nachts in einem Club, wenn ich ihn nicht analysiere, sondern nur auf mich wirken lasse, würde er mich ziemlich runterziehen.
· Track 9: crystal clear (Länge: 6′ 52“)
K: Kann man sagen, das ist ein Goldie-Klassiker? Soul-Gesang über Break-Beats?
C: Kann man, aber hier muß man auch folgendes erwähnen: Das sind lobenswerterweise neue Beats, nicht solche, die er schon mal benutzt hat. Drum’n’Bass definiert sich über die Beats und deshalb darf man sich in dem Punkt nicht ständig wiederholen. Ich mag auch diese typische Soul-Jazz-Trompete.
K: Ich ja nicht so. Da muß ich ständig an Yuppie-Cafés denken. Aber das ist das tolle an solchen und ähnlichen Stücken: Die Beats schaffen eine neue Atmosphäre, das ist modern, zeitgemäß. Ich brauche das, ich könnte nicht ständig alte Musik hören. Du mußt die Gegenwart fühlen, wenn nicht sogar die Zukunft. Hier ist es die Gegenwart.
· Track 10: demonz (Länge: 5′ 27“)
K: „demonz“ zeigt uns etwas von der Zukunft, so wie ich mir das gewünscht habe. Diese hektischen Rhythmen kombiniert mit den spitzen, scharfen Sounds – das finde ich aufregend. Nach „mother“ für mich der interessanteste Take des Albums.
C: Das Klirren erinnert mich an die Einstürzenden Neubauten.
K: Stimmt, das hat wirklich was von Industrie-Sound. Ist aber kein Industrial. Da wir jetzt beim letzten Stück angelangt sind, eine Frage als Fazit: Ist „saturnzreturn“ ein Jahrhundertwerk?
C: Nö. Für mich haben „Propellerheads“ bereits die Platte des Jahres gemacht. „saturnzreturn“ hat Ansätze zu einem bedeutenden Album, aber so wichtig wie die „Timeless“ ist sie nicht. Die erste CD von „saturnzreturn“ hat Tendenzen zur E-Musik, die zweite hat dies überhaupt nicht. Insgesamt fehlen mir die fetten Sounds.
K: Ich glaube schon, daß „saturnzreturn“ im Pop-Kontext Maßstäbe setzt. Ein Stück wie „mother“ hat meines Wissens schon lange niemand mehr versucht. Ich habe das Gefühl, heute werden Grenzen durchbrochen, indem man Dinge integriert, Schranken zwischen verschiedenen Bereichen überwindet. Und genau das tut Goldie mit diesem Album. Früher konnte man innovativ sein, wenn man ein Genre nach außen hin durchbrach. Aber wo sollte man heute damit landen? Integration ist der Weg.
Goldie: Saturnz return
(ffrr records)