Dass ich nicht der einzige Lucky Luke-Fan war, merkte ich in der fünften Klasse. Als wir uns im Englisch-Unterricht englische Namen geben sollten, nannte sich ein Klassenkamerad fortan „Averell“.
Morris – das ist für die meisten einfach „Lucky Luke“. Auch für mich. Ich besorgte mir die Hefte stapelweise aus der Bücherei. Keine Ahnung, wie sehr der dünne Cowboy mein Männerbild prägte. Denn klar: er war einfach ein Traummann. Verantwortungsbewusst, gelassen und attraktiv. Immer auf der Seite der Guten. Sportlich. Eben schneller als sein eigener Schatten. Wie oft hab ich vor dem Spiegel geübt…
Lucky Luke ist ein untypischer Comic-Held. Realistisch gestaltet inmitten einer Welt von Überzeichneten. Wer weiß, ohne seine skurrilen Begleiter – das sprechende Pferd und der Anti-Hund Rantanplan – wäre er vielleicht blass geblieben. Aber der Kontrast stimmte, und auch, wenn da noch die Sache mit dem Schatten war: ein Superheld war Lucky Luke nicht.
Realismus und Magie, das war die Mischung, die Morris´ Cowboy-Geschichten prägte. Realistisch waren die grandios entworfenen, liebevoll ausgestalteten Landschaften, durch die Banditen und Kavallerie ritten. In sich stimmig, vor Leben sprühend, die Atmosphäre mit Händen zu greifen, so waren auch die Saloon-Szenen. Mit oder ohne Schlägerei. Magisch, kein Zweifel.
Immer gab es viel zu gucken in den Morris-Bildern. Setzkästen in Zeitungsstuben, Telegraphen-Masten, Hotelzimmer mit Krug und Wasch-Schüssel und die unnachahmlichen „Willkommensschilder“ am Stadtrand. Sie waren so sicher wie der singende Cowboy im Schlussbild, der Sonne entgegenreitend. Zum festen Inventar gehörten natürlich auch die Daltons, Sheriffs und Bürgermeister, ängstliche Städter und bedauernswerte Postkutschen, dralle Revuetänzerinnen, jede Menge Teer und Federn und fiese Totengräber, in denen Morris seine alten Lehrer von der Jesuiten-Schule verewigte, die ihm als Jugendlichem das Zeichnen verbieten wollten.
Die Eltern von Maurice de Bévère (geboren 1923 im belgischen Courtrai) waren da schon toleranter. Zeichner: Ja. Aber Comics? Oh Gott, brotlose Kunst. Um seinen Vater optimistischer zu stimmen, zeichnete ihn Morris in einem Lucky Luke-Band als Goldgräber.
Dort fand er sich dann in guter Gesellschaft, denn in der lange Geschichte von Lucky Luke standen immer wieder Unbekannte und Promis Pate für das Western-Volk. Jean Gabin, Louis de Funes, Alfred Hitchcock, David Niven, John Carradine, Boris Karloff, Mark Twain. Und die lieben Kollegen: Franquin, Uderzo, Goscinny (der lange die Szenarien für Lucky Luke schrieb), und der Verleger Dupuis. Sein Haus verbot Morris übrigens die frivolen Tänze der Saloon-Schnecken. Erst nach Morris´ Wechsel zu einem anderen Verlag kam Lucky Luke in ihren Genuss.
Ärger gab es um ein Haar auch mit Coca Cola: just als Morris ein Entgelt für sein dezentes Product Placement ausgehandelt hatte, erschien im aktuellen Spirou-Heft die Lucky Luke-Folge, in der ein Indianer nach einem Schluck Cola tot umfällt.
Und natürlich wurde die Zigarette zum Stein des Anstoßes. Nach Protesten der amerikanischen Trickfilm-Branche musste der Cowboy künftig am Grashalm nuckeln.
Der Cowboy war sein Schicksal. Aber es scheint, als sei Morris nie unglücklich drüber gewesen. Hauptsache, er konnte Zeichnen. Kinderbücher hat er illustriert, Titelblätter gezeichnet für Comichefte und Liebesromane. Seine erste Lucky Luke-Geschichte erschien 1946 im Spirou-Almanach. Ab 1955 verfasste René Goscinny die Szenarios, nach seinem Tod 1977 arbeitete Morris mit wechselnden Autoren.
Aber es gab noch eine Leidenschaft, von der nur wenige wissen: Morris war begeisterter Tüftler. Kleine Comic-Gimmicks gehen auf sein Konto, und dabei ließ er auch die Figuren der Kollegen auftreten. Ein Marsupilami auf einem Einrad, das einen Bindfaden entlang rollt. Ein Gaston, der auf dem Arm eines Plattenspielers twistet. Und natürlich die Daltons, steineklopfend und Schubkarren-ziehend – bis zum Ende der Tischplatte und keinen Schritt weiter. Wie all die Dinge funktionieren, lässt sich mit den Gesetzen der Physik leicht erklären. Aber schöner ist es, ehrfürchtig über die vielen Talente des Morris zu staunen und ein kleines Geheimnis zu lassen. Franquin zum Beispiel wusste nicht einmal von der Existenz des radelnden Marsupilamis und des tanzenden Gaston.