Hugo Bettauer: Hemmungslos

Ach, das waren lustige Tage! Ein Vatertagsausflug auf Staatskosten mit Aussicht auf fremde Länder und Ordensbrust. Man skandierte „Jeder Schuß ein Russ‘, jeder Stoß ein Franzos'“ oder – auch der Wortwitz sprühte in jenen Tagen – „Serbien muss sterbien“. Ob man die „Dicke Berta“ sehen würde, jene legendäre Großkanone aus dem Hause Krupp? Oder gar, wer weiß?, auf dem Feld der Ehre einen ähnlich dicken Fisch an die Angel bekäme wie damals 70/71 den französischen Kaiser persönlich? – Doch es sollte kein Feld der Ehre mehr geben. Statt dessen Massenvernichtung mit zeitgemäßer Hightech. Verdun, die nordfranzösischen, belgischen Schützengräben, Ypern, Giftgas und Granaten, Verrecken in der eigenen Scheiße. Erster Weltkrieg.

Wer ihm lebend entkam, stand plötzlich in einer anderen Zeit. Räterepublik, Entmachtung des Adels, Arbeitslosigkeit, Inflation. Moralische Werte? Ach geh. Mancher, der einst treu und brav gewesen war, redete plötzlich so wie Kolomann Isbaregg, im alten Wien noch Freiherr und ein „von“, jetzt aber im neuen Wien ein Raubtier unter Raubtieren, ein Hungernder unter Hungernden:

„Wenn es mir zweckvoll erscheint, so bin ich imstande, ein Verbrechen zu begehen oder aber auch eine sogenannte anständige Handlungsweise.“

Moral und Ehre hat ihm die moderne Kriegsführung ausgetrieben, Isbaregg will essen und gut leben. Mit einem Taschendiebstahl beginnt seine Verbrecherkarriere, rasch erscheint ihm ein skrupelloser Mord „zweckvoll“, sodann eine reiche Heirat, die, als sie ihm lästig wird, mit der Ermordung der Ehefrau beendet wird. Und all das in Wien, dem immer noch lustig untergehenden und bald elend wiederauferstehenden Wien, zwischen Morbidität und Dekadenz, von jüdischer Intelligenz geistig am Leben erhalten und sich in Judenfeindlichkeit suhlend.

Wer war nun dieser Hugo Bettauer, der uns in Kolomann Isbaregg den Prototyp einer neuen Zeit vorstellt, einen sein noch rudimentär vorhandenes Gewissen ständig beschwichtigenden Opportunisten in des Wortes hässlichster Bedeutung? Bettauer war ein Wiener Jude, Schulfreund von Karl Kraus, Journalist, der auch in Übersee gearbeitet hatte, Herausgeber diverser Zeitschriften, die rasch angefeindet wurden, darunter „Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“. Er schrieb Romane (in rascher Folge, was man den meisten anmerkt) wie etwa die immer noch lesenswerte „Stadt ohne Juden“ oder die legendär verfilmte „Freudlose Gasse“, wurde zur bevorzugten Zielscheibe eines ungezügelten Antisemitismus, in Prozesse verwickelt, bedroht. 1925, gerade 53 Jahre alt, von einem „Nationalgesinnten“ erschossen.

„Hemmungslos“ erschien 1920 und ist ein zum „Kriminalroman“ geronnenes Zeitzeugnis, wobei man vorsichtig sein muss mit der Genretypologie. Die Überführung Kolomanns geschieht allerdings tatsächlich ganz genremäßig, von einer adäquaten Dramaturgie ist „Hemmungslos“ indes ein Stück weit entfernt. Und dennoch: Bettauers Roman gehört in die Reihe jener Kriminalromane, die unmittelbar auf ihre Zeit und ihre Zustände reagieren, eine seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gewachsene, mal mehr, mal weniger starke Tradition. Durchaus lesenswert, aber…

Denn auch dies muss gesagt werden: Als Autor, gar „Krimiautor“ gehörte Bettauer nicht zur ersten Garde. Allzu plakativ kommt er daher, der neue unbehauste Mensch mit seiner wandelbaren Moral, zu viele „Statements“ gibt er ab, das sonstige Personal holzschnittartig zu Diensten. Zum Ende hin wird’s gar ein wenig peinlich, wenn wir Isbaregg, kurz bevor seine Monstrosität offenbar wird, bei der tränendrüsigen Errettung eines „gefallenen Mädchens“ zusehen dürfen, und ganz zum Schluss hebt Bettauer die Geschichte ins Bedeutend-Allgemeine, ja beinahe Mystische.

Das konnte, nebenbei, Leo Perutz besser. Dessen Thema in „Wohin rollst du, Äpfelchen?“ ist dem Bettauers auf verblüffende Weise nahe. Ein Mann, traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, möchte eine dort erlittene angebliche Beleidigung rächen, er steigert sich hinein in seinen Hass, wird von ihm besessen und – aber das lese man am besten selbst. Perutz zäumt das Pferd von hinten auf, er schildert nicht das Abhandengekommensein von Moral und Ehre, sondern im Gegenteil ihre groteske Übersteigerung. Genau die aber wird sich für die Geschichte als noch fataler erweisen als Isbareggs bei vollem Bewusstsein verkündete Amoral. Und stilistisch / dramaturgisch konnte Bettauer Perutz eh nie das Wasser reichen.

Also durchaus eine Leseempfehlung, allerdings mit Einschränkung: „Hemmungslos“ ist ein spannendes Zeitzeugnis, reicht aber – im Gegensatz zu „Wohin rollst du, Äpfelchen?“ – über diese Zeit nicht hinaus.

Hugo Bettauer: Hemmungslos. 
Mit einem Nachwort von Peter Larndorfer. 
Milena Verlag 2009. 174 Seiten. 17,90 €

2 Gedanken zu „Hugo Bettauer: Hemmungslos“

  1. Lieber dpr, ich will mich keineswegs am Spiel über die Bande beteiligen, sondern nur anfragen, was der Mehrwert dieser Ausgabe gegenüber der Hannibal-Ausgabe von 1980 ist, die inzwischen bei Gutenberg eingestellt wurde. Bei allem Respekt vor Herrn Larndorfer — aber 17,90 wäre für sein Nachwort ein happiger Batzen.

  2. Mir ist ein weiterer Mehrwert leider nicht bekannt, lieber JL. Das Impressum schweigt sich über die Textgrundlage aus. Das ca. 10seitige Nachwort empfand ich als informativ. Und „über die Bande“? Die Rezi lag hier schon eine Woche rum und sollte eigentlich Anfang nächster Woche erscheinen. Aus aktuellen Gründen wurde sie vorgezogen, einer der Gründe ist schlicht der, dass ich die nächsten Wochen wohl etwas kürzer treten muss, um mich anderen Aufgaben widmen zu können. Dazu dann aber am Montag mehr.

    bye
    dpr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert