Echo, Preisverleihung der deutschen Schallplattenindustrie. Unter den üblichen Verdächtigen für Veranstaltungen dieser Art – wie Tic Tac Toe etc. – auch Wolfgang Petry mit seinem diesjährigen Brüller „Weiber“. Gekleidet in dezent verwaschene Jeans von der Stange, offenstehendes, über der Hose getragenes Flanell-Hemd Marke „Vorstadt-Grunge“ und als letzten Knaller dann noch sein eigenes Tour-Shirt mit fett rot-schwarzem „Scheißegal“-Aufdruck. Mir wird schlecht. Alpträume. O Gott!
Kann es noch deutlicher werden, wie dicht „sie“ uns schon auf den Fersen sind. Und überhaupt heiße ich Brennecke und nicht Branigan! Aber jetzt mal im Ernst, kann es denn sein, wie hier der Revolutionsblueprint des Rock-Images doch noch endlich die letzten Weihen des Mainstream erhält? Musikalisch hat mittlerweile Herbert Grönemeyer nachgezogen, und so kann man den Alternativ-Rock eigentlich erst mal auf Eis legen. Zur Pose verkommene Dress-Codes, abgelutschte Melodien, Lyrics, die sich in endlosem Selbstmitleid suhlen oder wahlweise auch Haßtiraden gegen Lehrer wie Ex-Freundinnen featuren oder sich auch einfach nur gegen die Menschheit an sich richten. Dagegen ist ja auch prinzipiell nichts einzuwenden, wenn man sich diesen Dingen nicht hauptsächlich zum Zweck des Geldverdienens und des tumben Stargehabe hingeben würde. Oder auch einfach gesagt: Wie revolutionär oder alternativ können Musik und Lifestyle sein, die schon längst vom Establishment eingeholt worden und fester Bestandteil von Vermarktungsstrategien sind? Ich rede hier jetzt nicht von Vertriebsstrukturen, ich habe auch nichts gegen Musiker, die von der Musik leben, und ich habe auch nichts dagegen, wenn dumme Menschen dumme Musik konsumieren. Allerdings fühle ich mich nicht wohl bei dem Gedanken, daß mir irgendwelche Abziehbilder mit irgendwelchen Plattheiten die Revolution verkaufen wollen und sich dabei auch noch super cool fühlen und womöglich stinkreich werden!
Wo bleibt denn da das gute alte Modell „Gegenentwurf“ oder von mir aus auch „Alternative“? Denn genau das, was an Punkrock und all seinen subkulturellen Ablegern am interessantesten war, war der Gegenentwurf zur Gesellschaft, zur Familie und zum Musik-Business. Oder wie Moses Arndt vom „ZAP“ das seinerzeit so schön auf den Punkt gebracht hatte: „It’s more than music.“ Gut, das Versprechen wurde uns zwar von Hardcore und Alternative-Rock gegeben, aber bis heute nicht eingelöst. Die Möglichkeit der Einlösung ging irgendwie auch auf dem „Marsch durch die Instanzen“ (MTV,VIVA und Major-Firmen) verloren, denn neue Vermarktungs- und PR-Strategien der Musikindustrie machen es, gerade für Musiker, die sich auf „Alternativen“ berufen, notwendig, die eigene Position ständig zu überdenken und auf veränderte Strukturen zu reagieren.
TORTOISE war und ist vielleicht eine der ersten „Bands“, die als Alternative zum alten Gegenentwurf funktioniert. Dem klassischen Songwriter der alten Rockschule steht hier zum Beispiel das Kollektivitätsprinzip gegenüber. Aus dem Zwang eines zu kleinen Studios heraus entstehen die Basic-Tracks oder auch Songs – die Band selbst nimmt sich hier die Freiheit, diese Frage ständig zu überdenken und in dieser Hinsicht auch uneins zu sein -während der Touren. Beginnend mit der Rhythmusgruppe, die mit dem Aufnahmeprozeß beginnt, werden im Studio nach und nach die restlichen Spuren eingespielt. Jede Idee des Einzelnen kann realisiert werden, entschieden wird dann kollektiv im Studio. Selbst die Frage, ob sich TORTOISE denn eher als Band im klassischen Sinne oder als Gruppe von Individuen sehen, lassen sie offen, bzw. die Frage wird immer noch, nach nunmehr fünf Jahren relativ konstanter Zusammenarbeit (lediglich Dave Pajo hatte bislang die Gruppe nach den Aufnahmen zum aktuellen Album verlassen), unter den Mitgliedern heftigst diskutiert.
Offenbar eine sehr fruchtbare Arbeitsweise, denn „Tortoise“ ist somit das wohl kompakteste (und seltsamerweise trotz alledem offenste) Album ihres Bestehens gelungen. Stilistisch hat sich die Gruppe mittlerweile Richtungen wie Jazz und Weltmusik zugewandt, was mir im Interview von Dan Bitney auch bestätigt wurde, denn TORTOISE sei durch Unterschiedlichkeit der einzelnen Mitglieder stets offen für alles gewesen.
Immerhin muß man sich das erst mal trauen. Allzu leicht kann gerade der Umgang mit Weltmusik peinlich enden, wie ein Blick über die Esoterik-Ecke im heimischen Record-Store leicht beweisen kann. In puncto Jazz ist die Band sowieso ziemlich firm (siehe auch Popkomm-Tagebuch ’96), zumindest Dan, der unter dem Namen Isotope 217 noch ein Jazz-Sideproject mit Jeff Parker am Laufen hat. Übrigens wird dieses auch das Vorprogramm der kommenden TORTOISE-Deutschlandtour bestreiten. Vielleicht ein wenig stressig für Dan, aber man darf gespannt sein.
Überhaupt sind Nebenprojekte oder Aushilfsposten anscheinend sehr beliebt im Bandumfeld. Fast alle Mitglieder sind auch anderweitig involviert: John McEntire und Dave Pajo bei Stereolab, Doug McCombs immer noch bei Eleventh Dream Day, die übrigens im letzten Jahr eins der feinsten Gitarren-Alben zum Jahr 2000 veröffentlicht haben (siehe auch EDD-Interview), und besagte Isotope 217 eben. Vielleicht sind diese verschiedenartigen Projekte tatsächlich die Basis für das ständige Neuüberdenken von Motivation und Absicht, das die Gruppe als Grundvoraussetzung ansieht, um als kreatives Ganzes und auch als kreatives Individuum weiterhin bestehen zu können. Große Worte, ich weiß, aber zumindest gelingt es TORTOISE durch den unverkrampften Umgang mit jeder Art von Musik wiederum Musik von ergreifender und selten gehörter Schönheit zu schaffen, die ihresgleichen sucht und man vermutlich lange nicht finden wird. Soviel Schönheit kann höchstens von den bekannten Mauern im Kopf gestoppt werden. Schade, schade, wenn man sich davon nicht freimachen kann, denn bei Live-Auftritten wie auch im Studio dient die Achse aus Schlagzeug, Bass, Gitarre, Keyboards und Percussion sowohl als Basis als auch Inspirationsquelle für Ausgangspunkte zu verschiedenen Styles und Sounds. Weiß der Himmel, was da noch alles passieren kann! Im Guten wie im Schlechten.
Die Gefahr von Manierismen und sinfonischen Ausrutschern, wie zum Beispiel bei späten Can-Aufnahmen, sieht zumindest Dan nicht. Angesprochen auf Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit, der in einem Interview seinerzeit sagte: „Am Anfang war alles phantastisch. Jeder hatte nur ein paar Noten zu spielen, dadurch blieb es schlicht. Später wuchsen unsere technischen Fähigkeiten. Es begann bei ,Tago-Mago‘. Ich finde es wurde zu sinfonisch“, verweist Dan darauf, daß alle Mitglieder ihre Instrumente bereits vorher beherrscht haben und vertraut ganz dem schon oben erwähnten Prozeß des ständigen Neuüberdenkens. Wir werden sehen.
By the way, obwohl ein Kurzfilm zum Track „Ten-Day-Interval“ existiert (angefertigt von einem Studenten der Filmhochschule in Chicago) wird es auch diesmal kein Video von TORTOISE auf den Programm-Schleifen der etablierten Musiksender geben. Aber mit einigen Remixen darf auch diesmal wieder gerechnet werden. Vielleicht nicht in dem Ausmaß wie früher, existiert doch beinahe zu jedem TORTOISE-Stück mittlerweile ein Remix, aber ein, zwei Mixe werden schon drin sein. Den vielleicht naheliegenden Schulterschluß von TORTOISE und der Detroiter und Chicagoer Techno-Szene wird es wahrscheinlich nicht geben, denn außer John McEntire hat niemand Einblick in oder gar Kontakte zur Szene. Aber man kann ja auch nicht alles haben.
Nichtsdestotrotz haben TORTOISE als Kollektiv einen hervorragenden Überblick über ein erstaunlich weit gestecktes musikalisches Gebiet – sowohl in der Vergangenheit als auch der Gegenwart, im Pop-Bereich, in E-Musik wie auch im Jazz. Das genau ist das größte Potential der Gruppe, bietet dieses Wissen doch die Möglichkeit der extremen Wandlung ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Natürlich bietet es auch die Gefahr von extrem peinlicher und ebenso extrem langweiliger Musik, was noch viel schlimmer sein kann. Aber diesen Fall sind uns TORTOISE einmal wieder schuldig geblieben. Und was noch viel wichtiger ist – zumindest für die über 25-jährigen unter uns: Auch diesmal dürften TORTOISE-Konzerte frei sein von diesen schrecklichen, dicken Kindern, die gerade versuchen, den Umgang mit Alkohol und Drogen zu erlernen, damit vermutlich noch den Rest ihres Lebens zubringen werden und einem dabei ständig über die Füße fallen. Allerdings muß mit dem Angriff von zahlreichen Moers-Festival-Besuchern gerechnet werden, was aber der Stimmung keinen Abbruch tun sollte, denn TORTOISE bieten eine Musik, die frei ist von Stereotypen und auch die Möglichkeit zu radikaler Änderung, als Reaktion auf veränderte Gegebenheiten mit einschließt. Und mehr kann der alternativen und klugen Rockmusik im Moment keineswegs abverlangt werden. Natürlich kann das auch zu echter Jungshobby-Mucker-Scheisse führen, aber das wollen wir jetzt mal noch nicht an die Wand malen.