Scritti Politti: Anomie & Bonhomie

Menschen, deren Ohren in den 80ern schon richtig verwöhnt wurden, jauchzen laut auf bei der Nachricht: „Neues Album von Scritti Politti“! Immerhin war die englische Band um Green Garthside bekannt für exquisiten Pop mit intelligenten, gar intellektuellen Texten – eben das, was man gern „sophisticated“ nennt, besonders wenn es sich, wie schon der Bandname (ein Gramsci-Text) andeutet, um politisch linksorientierte Akteure handelt.

Elf Jahre sind seit dem letzten Scritti Politti-Album vergangen, und von der ursprünglichen Besetzung ist „nur noch“ der Kopf übrig. Von der ursprünglichen musikalischen Ausrichtung allerding auch nicht wesentlich mehr, schließlich startete die Band einst im englischen Leeds als Punk-Combo, die bald darauf nach London zog und als Support Act mit Joy Division und der Gang of Four tourte. Der Schwenk zum Pop erfolgte erst Anfang der 80er, und trotz sehenswerter Charterfolge vor allem in Englang, aber auch Über-die-Insel und Über-See hinaus, sind Scritti Politti heute nur noch „Veteranen“, die schon in den 80ern Geschmack hatten, ein Begriff. Wird Zeit, daß sich das ändert, denn hätten Ohren einen Bauch, könnte man ihn durch Abspielen dieser CD vortrefflich pinseln!

Eins vorweg: der gebürtige Waliser Green Garthside, ehemals im provinziellen Leeds ansässig und danach wohnhaft in London, dem Nabel von Pophausen, hat schon Anfang der 80er den Sprung übern großen Teich in die Welt-Metropole New York gemacht, und nun bemächtigt sich diese Stadt (und, zugegeben, auch Los Angeles, wo ebensfalls ein Teil des Werks eingespielt wurde) mit ihren großen Fangarmen auch seiner Musik.

Ganz allgemein ziehen sich Funk-, Rap- und HipHop-Einflüsse durchs ganze Album (fast in jedem Take wirken die Rapper Mos Def und Me’Shell Ndegeocello mit), aber nicht nur oberflächlich und aufgesetzt, sondern speziell auf Garthside zugeschnitten. Er nutzt sie meist als komplexe Sound-Gerüste, als Endlos-Schleifen aus Beats, Breaks, Loops und Samples mit harter Diktion, wie sie auch Faithless´ Maxi Jazz gern unter seine Monologe legt. Garthside garniert sie mit verzerrten Riffs und Scratching, aber auch mal mit schmatzenden Disco-Gitarren und Streicher-Einwürfen, die an alte Silver-Convention-Tage erinnern, und bisweilen weiten sie sich zu einem Geräusch-Gewirr, tief wie eine Öko-Wiese. Wo er (wie in „Prince among men“) Wah-Wah-Effekte verwendet, klingt er ein bißchen wie Retro-Recke Lenny Kravitz.

Doch wo immer Garthside auf die Ninetees-Folie setzt, bricht er sie mit dem, was er am besten kann: perfekte Pop-Refrains mit Schrammelrock und zum-weinen-schönen Harmonie-Gesängen! Diese zuckrigen, fast oversouled klingenden, bittersüßen Vocals bewegen sich hart an der Kitsch-Grenze und übertreffen sich von Song zu Song selbst. Schwelg!

Drei Songs des Albums sind komplett in diesem Stil – und damit in klassischer 80er-Manier – gehalten. „Mystic Handyman“ (was beim Hören allerdings eher nach „Mister Candyman“ klingt und damit den Nagel auf den Kopf trifft!) ist Sweetness pur mit lässigem Akustik-Geschrammel, originellen Synths und Doo-Wop-artigen Backingvocals, die so atemberaubend sind, daß man eigentlich schon von „Chorälen“ sprechen möchte. Scritti Politti öffnen Horizonte, neue Dimensionen, und, ach was – unendliche Weiten…!

Als kleiner schamhafter Vergleich sei gesagt, daß Menschen, die gern die Rembrandts und die späteren Crowded House hören, mit „Anomie & Bonhomie“ extrem gut fahren!

Ein ähnliches Ballädchen wie „Mystic Handyman“ ist „Born to be“, nur simpler in der Ausführung, dafür mit genialen Übergangs-Passagen. „Brushed with oil, dusted with powder“ ist von einer Klasse, die laut Kritiker-Kollegen George Michael gelb vor Neid werden ließe: in Slowmotion, tief in sich versunken, dezent symphonisch und im Schlußteil von allen irdischen Fesseln losgelöst und in süßes philly-esques Nichts entschwebend.

Ja, loslassen kann der Mann, auch seine HipHop-Kreationen bewegen sich oft seltsam verloren in harmonischem Niemandsland, das kaum einer definitiven Aussage zuzuordnen ist!

„Anomie & Bonhomie“ bewegt sich die meiste Zeit zwischen entgegengesetzten Polen, nämlich zwischen New York und Great Britain, das in den zarten Pop-Melodien und den beatle-esquen Harmonien Ausdruck findet, und zwischen den locker-flockigen 80ern und den brachialen, kantigen 90ern. Abseits dieser beiden Schubladen liegt ein klassisch-rockiger Brecher mit treibenden, straff geführten E-Gitarren und Ohrwurm-Charakter, Uff-Ta-Ta auf hohem Niveau sozusagen: „Here come July“.

Alles in allem ein geniales, vollgepacktes Werk, das einen erst in einen dumpfen Underground-Sog zieht, um dann aufs Eleganteste den Gaumen zu kitzeln (hätten Ohren Gaumen…). Zupackend und süß zugleich: hier war ein Meister am Werk, der zwar nicht das Rad neu erfindet, aber perfekt assimiliert, um dann doch nur wieder selbst neu aufzuerstehen. Erinnert mich streckenweise an den ebenso genialen Duffy, der allerdings ungleich versehrter aus den Eighties hervorging als Green Garthside. Nichtsdestotrotz: zwei wahrlich lohnenswerte Revivals!

Scritti Politti: Anomie & Bonhomie 
(Virgin)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert