Maschinengeräusche, Sirenengeheul, Fliegersurren, Klavierakkorde, Kinderstimmen, die den Erlkönig pauken, ein Gesangsverein, ein pfeifender Flaneur, ein verärgerter Telefonbenutzer, Kirchengeläut, Autohupen… Was der Filmemacher und Medienkünstler Walter Ruttmann (1887-1941) da am 13. Juni 1930 im Radio präsentierte, war die Auslese eines Wochenendstreifzugs durch Berlin. „Weekend“ nannte er seine Geräusch-Collage, seinerzeit eine Pioniertat.
Nicht nur, dass Ruttmann ein akustisches Abbild der Stadtlandschaft schuf, er ordnete sein Klangarsenal auch rythmisch-musikalisch an, komponierte es durch. Der Begriff des „Materials“ war ihm wichtig – und nicht nur ihm. Alltag und Abfall der industrialisierten Welt avancierten Anfang des 20. Jahrhunderts vielfach zum künstlerischen Material: ihres eigentlichen Zweckes entkleidet und im Gegensatz zur vermeintlichen Hochkultur stehend. Collage und Montage, das Spiel mit Schnittstellen und Brüchen, das Zusammenfügen von Verwandtem, Gegensätzlichem und Zufälligem wurde zum Mittel, die neue, elektrisierte, immer schneller, greller und lauter werdende Welt zu verarbeiten, die selbst unablässig Kunst- und Konsumgüter auszustoßen schien.
Eine „vollkommen neue akustische Kunst“ diagnostizierte Ruttmann, aus „diesem unendlichen Material zu neuem Sinn gestaltbar nach den Gesetzen der Zeit und des Raums“. „Neu“ würde sie sein, „nach ihren Mitteln und nach ihrer Wirkung“. Ganze 11 Minuten und 10 Sekunden lang machte Ruttmann vor, was er meinte. Ein einziges Mal wurde sein Hörfilm gesendet, dann verschwand das Original, bis 1978 in New York eine Kopie auftauchte.
Knapp 70 Jahre nach dem „Weekend“-Debüt lud der Bayerische Rundfunk in der Klangkünstler- und Elektronik- Szene zum Ruttmann-Remix und präsentiert nun die Resultate von DJ Spooky, To Rococo Rot, Mick Harris, John Oswald, Klaus Buhlert und Ernst Horn. Wie nicht anders zu erwarten, entstanden so sechs mehr oder weniger neue „Weekend“-Fassungen, teils um Beats und Grooves bereichert (DJ Spooky), teils sämtlicher Alltagsgeräusche entledigt (Mick Harris) und teils mit komplett neuen, zeitgemäßen Klängen, wie dem schier unerschöpflichen Vorrat an Handy-Klingelmelodien, Modem-Geknisper und Fernseh-O-Tönen etc. (To Rococo Rot). Gewinnbringend: im Booklet erläutert jeder Interpret kurz die Beweggründe seiner Version.
Vorsichtig und voll des Respekts näherten sich die meisten der Interpreten dem Ruttmannschen Monument. Ernst Horn setzt den Geräuschen eine schier endlos durchlaufende Techno-Schleife entgegen und nutzt die Industriegeräusche perkussionistisch: Industrial auf „künstlerisch“. Das monotone Klangbett unterstreicht allerdings nicht die Mechanik der Ruttmannschen Vorlage, sondern stellt eher deren Vitalität heraus.
Klaus Buhlert hat Proben seiner eigenen Arbeit eingeflochten: wie ein Kaleidoskop fächert sich das Resultat auf. Nicht ergänzt, sondern vervielfältigt, fast variiert präsentiert es sich. DJ Spooky zieht Ruttmanns „Weekend“ in einen dunklen Underground-Kosmos aus aktueller Elektronik-Kulisse und schemenhaften Geräuschen der 20er Jahre, meist stark verfremdet.
Noch weiter vom Ausganspunkt weg entfernt sich Mick Harris. Unbeirrbar präzise und präsent bahnt sich der Beat seinen Weg durch diverse undefinierbare Klangwelten. Mehr Klanglandschaft als strukturiertes Ganzes. Bei To Rococo Rot kommt die Hommage dagegen einer Exekution gleich. Sie haben sich komplett infizieren lassen und dem Ruttmanns archaischem Klangarsenal gleich ihr eigenes, heutiges entgegengesetzt. John Oswald wiederum hat Ruttmanns Geräuschwelten schlicht ineinander verschoben. Zu einem dichten, komprimierten Westentaschen-„Weekend“.
Und was bleibt von der Begegnung aus Alt und Neu? Die Feststellung, dass Walter Ruttmann das Prinzip des Sampling schon vorweggenommen hat. Der Umgang mit Klangmaterial als solchem, das umfunktioniert und zur Basis eines Neuen werden kann, hat sich verselbständigt, banalisiert. Die Weekend-Remixe helfen, darüber wieder zu staunen.
Diverse Interpreten
Walter Ruttmann Weekend Remix
(Intermedium rec./Indigo CD 93172)