Chartskritik 26.1.2003

Ich hab mir diesmal vorgenommen, nicht nur abzukotzen, sondern auch mal zu loben. Denn Abkotzen macht ganz schön alt. Man kriegt Falten, eine schrille Stimme und so.

Deshalb: gleich mal einen Kübel Sympathie an Platz 18: da steht Nena! Denn ich hab mich vor ein paar Tagen ertappt, wie ich unter der Dusche „Leuchtturm“ gesungen hab. Also, das neue „Leuchtturm“ – ist ja ganz schön verwirrend, zwei so unterschiedliche Lieder mit dem gleichen Namen vom gleichen Interpreten. Trotzdem find ich’s gut, dass es nicht „Leuchtturm 2002“ oder so heisst. Das sieht hässlich aus, und man kann das ja auch anders irgendwie hinkriegen. Ich hab mich also an das neue gewöhnt und kann mich schon kaum noch an das alte erinnern, obwohl es meine zweite selbstgekaufte Single war. Aber auch die neue Version ist ein gelungener Ohrwurm, das Video ist ganz nett, und ich liebe es, wenn Nena so übertrieben mädchenhaft die Vokale zerdehnt: „all-llaaaii-ne“. Hach… Und ich find übrigens gar nicht, dass sie keine Stimme hat. (Hat neulich jemand unwidersprochen im Fernsehen behaupten dürfen.)

Auf Platz 14 sind Master Blaster mit „Hypnotic Tango“. Ich glaub ja, dass das Lied damit jetzt erfolgreicher ist, als es das Original in den 80ern war. Ich hab das gar nicht als so´n Smash Hit in Erinnerung. Deshalb müsste man Master Blaster sogar loben, dass sie nicht so was wie „Moonlight Shadow“ oder so rausgekramt haben. Ist außerdem hübsch atmosphärisch geworden – oder soll ich sagen, so gar nicht Mark Oh-mäßig. Denn der hat sich mit „When the children cry“ ja auch so´n Unter-ferner-liefen-Song rausgesucht, und wir wissen, was draus geworden ist…

Leider ziemlich scheiße geworden ist „Stand by me“ von DJ Dave. Es hört einfach nicht auf mit der Cover-Flut in den Charts. Warnung: das ist übelste Trance-Scheiße, es fehlen nur noch die durchdringenden Cartoon-Stimmen wie bei Mark Oh. Aber es könnte sich lohnen, einfach nur den Ton wegzuschalten, das Video ist nämlich sehr schön. Bei Musik würde man sagen „Low-Fi“. Also sehr einfach, fast ärmlich, sehr Down to earth. Ein Pärchen fährt in ner alten Klapperkarre durch das winterliche Berliner Umland, bleibt liegen und wird mitgenommen und so. Ist so völlig ohne Glamour, gerade deshalb sehr stylish, und auch formal nett gemacht, mit vielen Split Screens.

Schlechtestes Video der Woche? Alex C. feat Jasmin K. und “Amigos forever”. Alex C. – das lässt die aufdringlich modernistische Abkürzung schon erkennen – ist natürlich Alex Christensen, der vermutlich biederste deutsche Dancefloor-Produzent, den es gibt. Dagegen ist Dieter Bohlen ja Futurismus pur. „Amigos forever“ ist also so´n billiges Trance-Liedchen in schlimmster 08/15-Manier. „Na und?“, würde Alex Christensen vermutlich sagen, „es soll ja auch nur in deutschen Dorf-Discos funktionieren und da den aufgedonnerten Tippsen und Versicherungsvertretern das Geld aus der Tasche ziehen.“ Ja, das tut es vermutlich auch. Aber die müssen da ja auch nicht das grottenschlechte Video sehen, das vermutlich der Praktikant der Filmfirma als Einstandsarbeit abgeliefert hat. ´ne Tussi wird entführt, gefesselt und kriegt die Augen verbunden (das ist nicht cool anzusehen, sondern dreht einem ob der Menschenfeindlichkeit schon den Magen um), drumherum natürlich lauter Südländer, weil: die sind ja immer in der Nähe, wenn´s kriminell wird, oder? Und dann kommt Alex Christensen mit seinem Opa-Haarschwanz und grüner Trainingsjacke und befreit die Frau, die zwischendurch schon völlig unmotiviert in der Landschaft steht und singt. Darüber so´n leichter Gelbschleier und irgend´n Kamerafilter, den wahrscheinlich der Kamerapraktikant drübergelegt oder der Farbkorrektur-Praktikant übersehen hat.

Oh Mann, jetzt hab ich ja schon wieder abgekotzt. Aber bei Alex Christensen seh ich halt rot. Deshalb noch zum Abschluss was Nettes: auf Platz 29 ist Kate Ryan, eine Belgierin, mit „Desenchantee“. Auch so´n Disco-Cover von irgendwas Altem (herrjeh), aber erfreulich anzuhören und irgendwie passend in Szene gesetzt. Und einen Platz dahinter ist meine Freundin, die coole In-grid mit „Tu es foutu“. Ich hab es früher schon gelobt – super Chanson-Pop mit super Video. Wenn´s schon nicht in die Top 20 kommt, wo es mindestens hingehört, dann wenigstens ganz lang in den Top 100.

Und das noch: auf Platz 12 (Neueinstieg!) ist Kai Tracid mit „4 just 1 day“. What the hell…? Ich kann schon nichts mehr drüber sagen, weil ich vergessen hab, was es eigentlich war, außer irgendwas Tranciges. Also: wenn ich derzeit Kohle in den Charts machen würde, dann würde ich mich nicht auf den Geschmack von Dreißigjährigen verlassen. Sondern irgendwas in Richtung Trance machen.

Die Top Ten:

  1. Deutschland sucht den Superstar:
    We have a dream
  2. Eminem:
    Lose yourself
  3. Die Gerd-Show:
    Der Steuersong
  4. Panjabi MC:
    Mundia to Bach Ke
  5. Xavier Naidoo:
    Abschied nehmen.
  6. Robbie Williams:
    Feel
  7. Jay-Z. feat. Beonce Knowles:
    ´03 Bonnie & Clyde
  8. Aaliyah:
    Miss you
  9. Jennifer Lopez:
    Jenny on the block
  10. Guano Apes:
    You can´t stop me

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