Schön, dass einige von euch nicht davor zurückschrecken, mich auf meinem irrlichternden Weg durch die Weltliteratur, auf der Suche nach dem wahren Wesen des Kriminalromans zu begleiten. Ich weiß ja selber nicht so genau, wohin das alles führen wird, ob wir am Ende gar zur großen verborgenen Felsenhalle gelangen werden, wo der uralte Wächter der Regeln des Krimis schon auf uns wartet und jene Steintafeln ausliefert, auf die der erste Krimiautor geritzt hat, wie ein Text beschaffen sein muss, um ein guter Krimi zu sein.
Steht da vielleicht ganz oben im donnernden Imperativ: „Ein Text, der nicht die Wirklichkeit abbildet, ist kein Krimi!“? Hm, ich bin mir nicht sicher. Ich frage, was Wirklichkeit und Krimi angeht, lieber noch einmal nach, und zwar bei einem absoluten Meister seines Fachs.
Vladimir Nabokov – der Architekt
Wenn ich eines nicht mag, dann sind es Krimis, deren Autoren sich schlauer dünken als die Leser. Ihr kennt das: Man liest und rätselt mit – aber am Ende hat man keine Chance, weil kein normaler Mensch auf die richtige Lösung kommen konnte. Detektive als Übermenschen, diese Sherlock Holmes – Verschnitte und Niemals-Irrenden.
Etwas anderes ist es, wenn ich bei der Auflösung eines Falles mir mit der flachen Hand gegen die Stirn klopfen muss. Mensch, darauf hättest sogar DU kommen können! Letztmalig passiert bei Boris Akunins tollem Krimi „Pelagria und der schwarze Mönch“. Aber das ist nichts im Vergleich zu Vladimir Nabokov und seinem Roman „Lolita“. Dieser ganze Text ist ein Rätsel, ja, vielleicht das faszinierendste der gesamten Literatur des 20. Jahrhunderts, und es verwundert vorab nicht, dass wohl kaum ein Roman so missinterpretiert wurde wie gerade dieser. Als Hohelied auf den Kindsmissbrauch zumeist, von Menschen, die, wenn sie das Buch überhaupt gelesen haben, nur das beste Beispiel für die Armut im Geiste sind, die sich weder um materiellen Wohlstand noch Ansehen noch Schulbildung schert. Armut im Geiste ist eine gerechte Plage. Sie wirft sich gefräßig auf alle Bevölkerungsschichten, und es gibt nur ein Mittel, ihrer Herr zu werden: denken.
Also „Lolita“. Das ist, jedes kleine Literaturlexikon gibt darüber Auskunft, natürlich auch ein veritabler Krimi: Kindsmissbrauch, wie schon erwähnt, Entführung, ein geheimnisvoller Verfolger, der schließlich von dem Bösewicht mit dem schön diabolischen Namen Humbert Humbert ermordet wird, und, am Ende, die Katharsis. Das Gute siegt (teilweise), der Übeltäter schmachtet im Gefängnis und stirbt schließlich selbst.
Nun schätzt man „Lolita“ aber kaum als guten Krimi, sondern als ein absolutes Zauberwerk der Sprache. Wer hier Pornografisches vermutet, wird enttäuscht und erhält Schilderungen, bei denen einem die Luft wegbleibt. Wer sich an Notzucht aufgeilen möchte, wird nur besoffen durch den Genuss einer atemberaubenden Sprache. Schweigen wir ganz von der Konstruktion des Textes. Es geht einfach nicht besser. Alles stimmt.
Alles? Hm. Geben wir die „Lolita“ einem Zerberus des literarischen Realismus in die Hand, einem profunden Kenner der Alltagslogik. Er wird lesen und lesen und seine Stirn wird sich immer mehr, immer bedrohlicher in Falten legen. „Ha!“, ruft er endlich aus, „das soll real sein? Das soll gut konstruiert sein? Dass ich nicht lache! Herr Nabokov, Sie sind ein Grobschnitzer! Sie schrecken vor nichts zurück, nicht einmal vor dem Bemühen des gnädigen Zufalls, ohne den ihre Handlung nicht voranzutreiben wäre. Sie sind schlimmer als Leo Malet, dessen Nestor Burma auch immer „zufällig“ mit der Nase auf den richtigen Weg gestoßen wird, wenn er wieder mal nicht weiß, wie es weitergeht. Schlimmer als jeder Heftchenstümper, der „natürlich ganz zufällig“ eine Bohrmaschine im Sack hat, mit der er ein Loch in die Wand bohrt, um ein Gespräch zu belauschen, das den Fall löst.“ So könnte er sprechen, unser Zerberus und – er hätte Recht.
Worum geht es konkret? Um Zufälle. Es stimmt: Vladimir Nabokov treibt die Handlung seiner „Lolita“ durch das Geschehenlassen unmöglichster Zufälle voran. Der Held will sich von einem Nervenzusammenbruch erholen und mietet sich ein Zimmer. Doch das Haus brennt kurzfristig ab. Er mietet sich also bei Familie Haze ein, deren Tochter Lolita aber gar nicht da sein dürfte, sondern zur Sommerfrische bei der Tante. Nur leider: Tantchen bricht sich das Bein und Lolita ist hier, und die Story kann munter weiter gehen. Wäre da nicht die Mutter der Kleinen. Die muss man ausschalten, und der grimmige Nabokov hat keine Skrupel, sie von einem Auto überfahren zu lassen, das einem Hund ausweichen muss, der… und so weiter. Es ist furchtbar.
Oder doch nicht? Denn kommen wir nun zu dem, was ich weiter vorne die Chance genannt habe, als Leser einen Fall lösen zu können, indem ich einfach die richtigen Schlüsse ziehe. Wenn ich das unvoreingenommen tue, muss meine erste Schlussfolgerung die sein, dass ein Ass wie Nabokov, ein solcher Schreibgott, keine Anfängerfehler macht. Er will uns etwas damit sagen, er will uns zum Denken bringen, auf den richtigen Weg locken. Man kann es auch anders ausdrücken: Er macht uns zu Detektiven in einer Art Metatext, einem Krimi, der nichts mehr mit dem eigentlichen, Wort gewordenen Krimi zu tun hat, sondern darüber hinaus reicht – nein, genauer: ein Krimi, der uns in die Konstruktion des Romanes selbst führt, denn nur um sie geht es Nabokov.
Die Story, durch unglaubliche und unrealistische Zufälle vorangetrieben und durch sie erst möglich gemacht, ist nichts weiter als ein sehr wackliges Konstrukt, ein Tagtraum, der dazu dient, eine Sache, die in der Wirklichkeit nicht geschehen konnte, in der grenzenlosen Welt des Romans geschehen zu machen. Wir geraten dadurch zunächst auf eine andere Ebene innerhalb des Romans. Wer hat diesen Wunsch? Natürlich Humbert Humbert, der Mann in seinem Gefängnis. Und dieses Gefängnis ist plötzlich nicht mehr ein realer Ort, sondern ein Seelenzustand. Irgendetwas wütet in Humbert Humbert, ist unvollendet und schreit so sehr nach Vollendung, dass er eine Geschichte konstruiert. Was? Auch darüber gibt der Roman Auskunft. Der junge Humbert nämlich war in ein Mädchen verliebt, und nachts am Strand glaubte er sich am Ziel seiner Wünsche. Sie würde sich ihm hingeben – doch dann steigen plötzlich einige Taucher lachend aus dem Wasser, die Gelegenheit ist vorbei. Das Mädchen stirbt kurz darauf.
Humberts Pädophilie ist also nichts weiter als die Suche nach der Erfüllung eines Jugendtraums. Lolita gibt es gar nicht! Sie ist ein Produkt der Phantasie Humberts, eine Wahnvorstellung in seinem Gefängnis, das keine steinernen Mauern hat.
Wir verlassen nun die Textebene und wenden uns dem Autor zu. Vladimir Nabokov wurde 1899 in St. Petersburg als Sohn wohlhabender Eltern geboren. Zu Beginn der Oktoberrevolution flüchtet die Familie nach Berlin, wo der Vater 1922 ermordet wird. Ein politischer Mord. Nabokov lebt bis 1937 in Berlin, zieht dann nach Paris, schließlich in die USA, wo er eine Dozentenstelle erhält. 1955 erscheint, nach vielen hervorragenden, aber erfolglosen Romanen, „Lolita“ – und zwar, kurioserweise, in einem französischen Verlag namens „Olympia Press“, der auf die Produktion schlüpfriger englischsprachiger Texte spezialisiert ist, die amerikanische Touristen gerne kaufen.
Das große Thema der Bücher Nabokovs ist die verlorene Heimat Russland, die verlorene Jugend, die nur noch in Erinnerungen präsent ist, leuchtet. Auch hier, in der Biografie des Autors, ist etwas unvollendet geblieben und muss zu Literatur gerinnen, um Wirklichkeit zu werden.
Fassen wir zusammen, was unsere detektivische Arbeit an der „Lolita“ gebracht hat:
- Unserer scharfen Beobachtungsgabe ist nicht entgangen, dass „irgendetwas nicht stimmt“ mit diesem Text. Er ist eigentlich wunderbar, aber dann gibt es diese merkwürdigen Anfängerfehler, dieses Bemühen der Zufälle.
- Wir ziehen einen logischen Schluss: Der Zufall ist kein Zufall. Er führt uns vielmehr auf eine andere Bedeutungsebene, einen dunklen Punkt in der Vergangenheit des Helden Humbert Humbert.
- Wir schlagen einige Seiten zurück und lesen die entscheidende Passage am Strand. Wir wissen nun, dass es eigentlich darum geht, in Gedanken jene Jugendepisode zu jenem glücklichen Ende kommen zu lassen, das sie in Wirklichkeit nicht hatte.
- Wir ziehen einen zweiten logischen Schluss: Die Geschichte von Lolita wird von einer Person in einer Geschichte von Vladimir Nabokov erfunden. Lolita existiert nicht, sie wurde nie verführt.
- Wir beschäftigen uns mit der Biografie des Autors und stoßen auf eine Situation, die mir der vergleichbar ist, die Humberts Manie ausgelöst hat. Auch Nabokov will etwas zu einem glücklichen Ende kommen lassen, das durch die Wirren der Geschichte kein glückliches Ende gefunden hat.
- Wir haben den Fall gelöst. Und es hat sich gelohnt. Hunderte von Seiten perfekter Literatur, trunkenmachender Sprache und Dramaturgie. Man nenne mir einen „richtigen Krimi“, einen „der Erfordernissen der Realität“ entsprechenden Roman, der dies auch geleistet hätte. Ich kenne keinen.
Was haben wir nun gelernt? Wir haben gelernt, dass ein Krimi manchmal erst dann ein Krimi wird, wenn wir Detektive werden und über das Buch hinaus recherchieren. Wir haben zudem gelernt, dass „Wirklichkeit“ ein Konglomerat verschiedener Ebenen und Zustände sein kann. Darüber sollte man, ja muss man nachdenken. In der nächsten Lektion präsentiere ich dann einen Mann, der ein ausgewiesener Krimiverächter war. Was ihn aber keineswegs davon abhielt, sich des Genres ausgiebig zu bedienen.
Hard stuff, Freunde. Kommentare wie immer an die Schulmailadresse.