Setzen wir uns einen Moment bequem zurück, atmen durch und rekapitulieren: Bei der Lektüre eines Krimis ist der Leser an die Lese-Zeit-Richtung gebunden. Dieses Genre-Merkmal ist eng mit einem anderen verknüpft, das ich mit „Das Aufräumen einer großen unordentlichen Kiste“ bezeichnet habe und den daraus zwingend folgenden Gesetzen der Kausalität, Chronologik und Sinnhaftigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erzählzeit ebenfalls den Gesetzen der Chronologie folgt.
Gut und schön. Aber ist das alles, was mir einer guter Krimi bieten sollte? Und was hat es mit der „Realitätstüchtigkeit“ auf sich, die viele Leser von einem Krimi erwarten? Definiert sie sich gar auch nach den Kriterien Kausalität, Chronologik und Sinnhaftigkeit?
Das mit der „Realitätstüchtigkeit“ ist eine böse, böse Geschichte, und eigentlich versuche ich seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten, diese Klippe zu umschiffen, indem ich einfach behaupte, jeder Roman habe seine Realität und sei somit qua definitionem „realitätstüchtig“ und damit basta.
Da habe ich aber die Rechnung ohne meine Schüler gemacht. Besonders Ludger hat hier →erhebliche Einwände erhoben. Auch mein schüchterner Schlichtungsversuch, man könne sich vielleicht darauf einigen, unter „Realität“ allgemein die „Abbildung von Gehirnvorgängen“ zu verstehen, stieß auf Unverständnis. So schreibt Bernd:
Für mich bedeutet „Realitätstüchtigkeit“ nicht Abbildung von „Gehirnvorgängen“ [was sollte das sein ?], sondern tatsächlich Orientierung an der „realen Wirklichkeit“.
Beginnen wir also die Suche nach der „Realitätstüchtigkeit“ beim Wort selbst. Er kann nur bedeuten, dass ein Krimi vor der Realität oder in ihr bestehen muss. Und was heißt das? Ist er Teil der Realität? Integraler Bestandteil? Ist er nur die Abbildung eines Teils des Realität oder trägt er zu ihrer Erweiterung bei? Und wer billigt einem Krimi zu, vor oder in der Wirklichkeit bestanden zu haben? Und in welcher? In der eigenen oder einer wie auch immer gearteten empirischen?
Wir drohen hier in ein philologisches Gewässer zu fallen, in dem wir nur noch eins tun können: schwimmen, um schnellstmöglich wieder ans Ufer und dann über alle Berge zu kommen. Vergessen wir also die ganze Rhetorik und bauen praktische Versuchsreihen auf.
Wenn ich meine Schüler richtig verstehe (na schön, welcher Lehrer versteht schon seine Schüler richtig…), dann erhalten sie von einem Krimi Informationen, die sie „der“ Realität zuordnen können. In einigen Fällen ist das kein Problem, etwa wenn man die aktuelle Diskussion um den Roman „617 Grad Celsius“ von Horst Eckert verfolgt, in dem, ach du Schande!, die politische Klasse des Landes Nordrhein-Westfalen vor den dort stattfindenden Wahlen ins Visier genommen werden soll. Doch schon hier ergeben sich aus dem Klarheit die ersten Vagheiten. Ist Eckerts Krimi eine Art Schlüsselroman oder beschreibt er „nur“ allgemein-metaphorisch politische Verhältnisse als solche? In beiden Fällen könnte man zwar das Etikett „realitätstüchtig“ auf das Cover kleben (ob so etwas eigentlich verkaufsfördernd wäre?), aber der erste Lautsprecher, der sein „So ist das ja gar nich’ bei uns in NRW!“ herausklagen würde, stellte die „Realitätstüchtigkeit“ gleich wieder in Frage.
Kommen wir zu einem zweiten Beispiel. Der englische Autor Charles Todd hat kürzlich einen Roman namens „Stumme Geister“ geschrieben, den ich im →„Titel-Forum“ reichlich euphorisch besprochen habe. Erzähl-und milieutechnisch passt „Stumme Geister“ in die Tradition des englischen Whodunit in bewährter Christie-Tradition. Ein Inspektor ermittelt in einer Mordserie, ein alter Fall kommt ihm zudem noch in die Quere und sorgt für Irritationen und Selbstzweifel. Der Krimi spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg im ländlichen England mit allen Requisiten, die wir seit den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Genüge kennen.
Oberflächlich betrachtet, spiegelt „Stumme Geister“ eine historische Wirklichkeit wieder, nämlich das England unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg, etwas tiefer geschaut erlaubt uns die Analyse des Personals Einblicke in menschliche Charakteristika und Seelenlagen, die wir durchaus in unsere individuelle Jetztzeit transponieren können, was sie wiederum zu „zeitloser“ Realität werden lässt.
Aber ein weiteres Moment kommt hinzu. Todds Protagonist Ian Rudledge ermittelt nicht allein. Ihm zur Seite steht ein Geist namens Hamish, die ruhelose untote Seele eines Soldaten, den Rudledge während seiner Zeit in den französischen Schützengräben zum Tode verurteilt hat. Diese Stimme namens Hamish gemahnt Rudledge permanent an eine andere Zeit, die des 1. Weltkrieges. Zugleich ist er aber auch in die Realität der Jetztzeit involviert, da er als Ratgeber des Inspektors fungiert, ein etwas anderer Dr. Watson also.
Das macht die Sache komplex. Ich könnte mir vorstellen, dass mancher Leser allein durch die Tatsache der Existenz dieses Hamish von der Lektüre des Romans abgeschreckt wird, weil er dahinter „übernatürliche Phänomene“ vermutet, die in einem Krimi nichts zu suchen haben, der ja „realitätstauglich“ sein soll. Andere wiederum akzeptieren Hamishs Dasein als Ausdruck einer psychischen Realität und tolerieren „Wirklichkeit“ als das subjektive Empfinden eines Menschen, dessen Gehirnvorgänge abgebildet werden und eben „die“ Realität konstituieren.
Noch ein dritter Fall. James Ellroys „Blood on the Moon“ (danke für den Tipp, Bernd!) führt uns zwei Männer vor, die beide in ihrer Jugend vom gleichen traumatischen Ereignis (einer Vergewaltigung) aus der Bahn geworfen wurden. Fortan versucht jeder für sich „die Unschuld zu retten“. Der eine, indem er Frauen tötet, der andere, indem er als Polizist einen bis zur Psychose gereiften Krieg gegen alle Feinde der Unschuld führt.
Für mich besteht das Faszinierende dieses Romans darin, dass Ellroy aus einer identischen psychischen Grundkonstante (wir können sie „Gehirnvorgänge“ nennen) zwei Realitäten entwickelt, wie sie sich diametraler zueinander kaum verhalten könnten. Die beiden Figuren sind Interpretationen EINER Wirklichkeit, und sie entstehen in sich als Interpretationen eines moralischen Begriffs von „Unschuld“. Damit wird aber „Wirklichkeit“ als etwas wenigstens in seinem Ansatz objektives glattweg negiert. Sie ist hier tatsächlich nichts anderes als die Wirklichkeit des Romans selbst. Zwei traumatisierte Kinder sitzen sich selbst überlassenin der Zeit, und spinnen Geschichten aus der Zeit.
Geschichten, die natürlich wieder den Gesetzen der Chronologik und Sinnhaftigkeit folgen, eine höhere Stufe der Realität, aus dem Versagen der „biografischen Wirklichkeit“ geboren. Das erinnert in der Technik durchaus an Nabokovs „Lolita“.
Sind wir jetzt schlauer? Ich muss gestehen: Eher nicht. Aber ich habe nie etwas anderes erwartet. Alle drei Beispiele definieren Wirklichkeit anders, und zöge man die Grenzen dieser Wirklichkeit, es läge zwischen Empirie und Phantasiegespinst so ziemlich alles darin. Und was soll ICH mit dieser Wirklichkeit anfangen? Tangieren mich die Traumata vergewaltigter Kinder oder eines auf ewig in den Schützengräben verbleibenden Inspektors? Ja, sie tangieren mich, wenn ich sie als Möglichkeiten der Realität ansehe, als eine Abstraktion, die in MEINER Wirklichkeit hilfreich sein kann.
In der nächsten Lektion greifen wir dieses Thema noch einmal auf und wollen sehen, wie der Leser das, was ihm „realitätstüchtig“ ist, zu seiner Realität macht. Bis dahin: Hier können wie immer Kommentare abgegeben werden. Und denkt an die 3. Ebene! Ich lüfte das Geheimnis in den nächsten Tagen und würde mich über Schülerarbeiten freuen! Bislang schweigt noch die baffe Schar, aber vielleicht gebe ich euch übermorgen noch einen Tipp. Was tut man nicht alles, damit die Blase einen guten Start ins Berufsleben bekommt!