Alle paar Jahre stemme ich zehn Taschenbücher mit einem Handgriff aus dem Regal, türme sie neben meinem Bett und mache mich an die Lektüre. Das braucht seine Zeit, aber macht nichts. Ich kenne die zehn Bücher gut, es sind Krimis. Und ich lese sie immer wieder. Warum eigentlich?
Zehn Bücher? Da schaut der Krimiexperte interessiert auf, überlegt kurz und triumphiert dann: „Aha, die Martin-Beck-Romane von Sjöwall / Wahlöö! Zwischen 1965 und 1975 erschienen, die Pioniere des sozialkritischen Krimis und seit einiger Zeit Blaupausen für fast alles, was uns als ‚Schwedenkrimi’ vor die Flinte kommt.“ So ist es, Meister. Beantwortet aber meine Frage nicht. Warum lese ich zum wiederholten Male Krimis, deren Plots ich im Schlaf dahererzählen könnte? Deren Sprache (es mag an der Übersetzung liegen; ich kann leider kein Schwedisch) mich nicht selten nervt, etwa wenn es heißt „Der Name des Tages war Ottilia.“
Ich merke schon: Man beantwortet sich seine Fragen am besten selbst.
Abbildung von Wirklichkeit
„Die Pioniere des sozialkritischen Krimis“: Ich gebe zu, das hat was. Und ist SO nicht ganz richtig. Richtig ist, dass uns die Kritik der Autoren am schwedischen „Wohlfahrtssystem“, ihre Warnungen vor einer Polizeidiktatur und ihre Schilderungen der moralischen Verwahrlosung einer Gesellschaft nach der Lektüre aller zehn Romane als ihre hervorstechendste Eigenschaft im Gedächtnis bleibt. Die Betonung liegt aber hier ganz klar auf „aller zehn Romane“. Analysiert man sie nämlich einzeln, Stück für Stück, so, wie sie erschienen sind, zeigt sich, dass jenes „sozialkritische Element“ für Sjöwall / Wahlöö nicht zu den Basisintentionen gehört haben kann, als sie sich zu ihrem großen Projekt entschlossen.
Die ersten Fälle sind ziemlich „kritikfrei“. In „Die Tote im Götakanal“ gilt es, den Mörder einer amerikanischen Touristin zu ermitteln. Nichts sonst. „Der Mann, der sich in Luft auflöste“ tut dies anscheinend in Ungarn, wo der Roman überwiegend spielt. Auch hier bleibt schwedische Sozialwirklichkeit samt ihrer Analyse außen vor, wenn man einmal von der umwerfenden Erkenntnis absieht, dass schwedische Journalisten ziemliche Säufer und Intriganten sein müssen.
„Der Mann auf dem Balkon“ steht dann jedoch für eine Richtungsänderung. Hier führen uns die Autoren ein Exemplar jener Gattung „glücklicher Schwede im sozialen Nest“ vor, einen völlig vereinsamten Mann, der seine „Volksrente“ verzehrt und seine Triebe nicht mehr unter Kontrolle hat. Wir begegnen zum ersten Mal dem Bullenpärchen Kristiansson und Kvant, das uns von nun an immer wieder erheitern und erschrecken wird (allerdings wird Kvant ablebensbedingt später durch Kvastmo ersetzt), wahren Karikaturen der Träg- und Faulheit. Noch erheitern sie uns eher.
Doch die Personenzeichnung des „Mannes auf dem Balkon“ ist beeindruckend genug, um uns naive Leser zum ersten Mal am Idealbild der schwedischen Gesellschaft zweifeln zu lassen.
Fortan begegnen wir immer wieder solchen Menschen, sei es in „Endstation für 9“ oder „Alarm in Sköldgatan“ oder „Und die Großen lässt man laufen“ oder „Das Ekel aus Säffle“ – entsozialisierte Wracks am Rande einer Wohlfahrtsgesellschaft, durch jedes Raster gefallen, ohne eigenes Verschulden in die Katastrophe getrieben, vom Fürsorgestaat bis zum Ersticken umarmt.
Und dennoch: Zwar wird nun die Stimme lauter, die all dies nicht nur beschreibt, sondern auch noch kommentiert (sei es durch die Autoren oder aus den Mündern des Romanpersonals), der große Rundumschlag ist das aber nicht. Es ist das, was ich die „selektive, exemplarische Abbildung von sozialer Realität“ nennen möchte. Figuren wie der Mörder in „Der Mann auf dem Dach“, die junge Prostituierte und der kleine Dealer in „Alarm in Sköldgatan“ oder der Amokläufer in „Das Ekel aus Säffle“ werden mit dem Scheinwerfer der Sprache aus der grauen Masse Mensch hervorgeholt. Sie sind, weil in Kriminalfälle verwickelt, überzeichnet, müssen es auch sein. Das Genre steigert die Trostlosigkeit, die Ausweglosigkeit des Personals und lässt sie dadurch stärker hervortreten. Eine der Stärken des Kriminalromans, sollte man meinen, aber auch eine seiner Schwächen, wenn dieser Effekt nur noch plakativ wirkt, die Personen anstatt scharf zu zeichnen lediglich karikiert und ihr Schicksal der blanken Sensationsgeilheit opfert.
Doch jetzt kommen die drei letzten Bücher der Reihe, und nun wird alles anders. Es beginnt auch gleich mit einer Zäsur: In „Verschlossen und verriegelt“ tritt Martin Beck fast ein Jahr nach einer schweren Schussverletzung wieder seinen Dienst an. Es hat sich einiges verändert. Die schwedische Polizei wurde „reformiert“ (bei Sjöwall / Wahlöö heißt das „militarisiert“), einige merkwürdige Typen tauchen auf: Stig Malm etwa, Becks neuer Vorgesetzter, ein Schleimer und Kotzbrocken vor dem Herrn, oder der exaltierte, von Banküberfällen faszinierte „Bulldozer“ Ohlsson. Überhaupt ist die Polizei nicht mehr die Polizei des ersten Falles: Es wimmelt von Faulenzern, Psychopathen, Lügnern, Schlägern, Dummköpfen in Uniform. Die Gesellschaft befindet sich in einem lähmenden Zustand der Angst, keiner traut mehr seinem Nachbarn, Kriminalität und Hysterie steigen, Moral und Vertrauen sinken.
Jetzt halten sich die Autoren nicht mehr zurück:
„Ich bin der Mann, der sich nach 27 Dienstjahren in solchem Maße seines Berufes schämt, daß mein Gewissen es mir verbietet, ihn noch länger auszuüben.“
Mit diesen Worten quittiert Lennart Kollberg, Becks engster Mitarbeiter, in Band 9, „Der Polizistenmörder“, seinen Dienst. Eine konsequente Entscheidung, denn die schwedische Gesellschaft samt ihrer Polizei, die Sjöwall und Wahlöö in den letzten drei Büchern entwerfen, ist ein mit den Mitteln der Groteske und der Karikatur geschaffenes Vexierbild. Entwickelte sich das gesellschaftliche Szenario der ersten sieben Bände aus der Beschreibung von Individuen, so ist es nun umgekehrt. Das stark bearbeitete, sprich überzeichnete Szenario gebiert das Personal. Eine legitime Methode, eine andere Art, mit Wirklichkeit umzugehen.
So. Genug für heute. Ich bin, das sei betont, noch immer nicht so weit, dass ich meine Frage, warum ich diese 10 Taschenbücher immer und immer wieder hervornehme, beantworten könnte. Ich schätze beide Arten, mit Wirklichkeit zu arbeiten, sie zu Literatur zu machen und über den Kopf des Lesers wieder zu Wirklichkeit. Auch fasziniert mich, wie sich die Autoren rein handwerklich weiterentwickeln. Es beginnt mit lapidaren, fast tagebuchartigen Aufzeichnungen der täglichen Arbeit eines Teams aus Kriminalbeamten und endet kunstvoll, dramaturgisch komplex, perfekt und überraschend mit den letzten drei Bänden. Wirklich überrollen tut mich jedoch etwas ganz anderes, und davon mehr in der nächsten Lektion. Zu dieser sind Meinungen wie immer herzlich willkommen. Und vergesst nicht, eure Hausaufgaben zu erledigen!